Wölfe passen sich erstaunlich gut an Menschen an

Ein heulender Grauwolf.
Werden Wölfe in der Nähe von Siedlungen „mutiger“? Dieser Frage geht eine neue Studie auf den Grund.

Die Wolfspopulation in Italien wächst seit Jahren – und mit ihr die Zahl der Sichtungen in der Nähe menschlicher Siedlungen. Das Forschungsteam um die Verhaltensbiologin Sarah Marshall-Pescini vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung, Department für Interdisziplinäre Lebenswissenschaften der Veterinärmedizinische Universität Wien, untersucht deshalb, wie Wölfe auf Lebensräume reagieren, die zunehmend vom Menschen geprägt sind. „Wir wollten verstehen, ob Wölfe, die näher an Städten oder Vororten leben, ein anderes Verhalten zeigen als jene in abgelegenen Gebieten“, erklärt sie.

Das Team verfolgt dabei einen interdisziplinären Ansatz, um die Auswirkungen der Urbanisierung auf die Ernährungsgewohnheiten der Wölfe, ihr Verhalten sowie ihr endokrinologisches und genetisches Profil zu analysieren und die Hypothese zu testen, ob Wölfe in der Nähe von Siedlungsräumen ein „mutigeres“ Verhalten zeigen als Wölfe, die in entlegenen Gebieten leben.

50 Rudel

Über vier Jahre wurden mehr als 50 Rudel entlang eines Urbanisierungsgradienten beobachtet. Grundlage war der Human Footprint Index, der Bevölkerungsdichte, Bebauung, Straßen und Lichtquellen erfasst. So ließ sich bestimmen, wie stark ein Wolfsgebiet vom Menschen beeinflusst ist. Um Unterschiede im Verhalten zu testen, richtete das Team ein „Freiluftlabor“ ein: Kamerafallen wurden an Orten installiert, die Wölfe regelmäßig passieren. Dort präsentierte man ihnen neue Objekte – ein klassischer „Novel Object Test“. Die Idee dahinter: Tiere, die häufiger menschlichen Reizen ausgesetzt sind, könnten ihre Scheu schneller ablegen. Zusätzlich stellte das Team verschiedene Dummys, etwa einen künstlichen Hund, versehen mit echten Hundehaaren, auf, um soziale Reaktionen zu erfassen. „Wir sahen deutlich, dass sie den Hund als soziales Wesen, quasi als Artgenossen wahrnehmen – ganz anders als die künstliche Elster“, so Marshall-Pescini. Einen klaren Zusammenhang zwischen Urbanisierung und Verhalten gebe es aber bisher nicht. Parallel untersuchten die Forscher Stressmarker in verendeten Wölfen, die ihnen aus ganz Italien überstellt wurden. Der Cortisolspiegel sollte zeigen, ob die Nähe zum Menschen belastend wirkt. Auch hier deutet bisher nichts auf erhöhte Stresswerte hin. „Es scheint, dass sich die Tiere erstaunlich gut an die Nähe des Menschen anpassen“, sagt sie – betont aber, dass die Analysen noch laufen.

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Priv.-Doz. Sarah Marshall-Pescini.

Systematischer Prozess?

Die gesellschaftliche Debatte rund um die Rückkehr des Wolfes ist emotional aufgeladen. Sarah Marshall-Pescini kennt diese Ambivalenz auch aus eigener Erfahrung: „Ich habe ein Haus mitten in den Apenninen – und habe auch schon Wolfskot in meinem Garten gefunden.“ Einzelne Tiere könnten ihre Scheu verlieren, doch entscheidend sei die Frage: „Handelt es sich um Einzelfälle – oder um einen systematischen Prozess auf Populationsebene?“

Für eine konfliktärmere Koexistenz seien funktionierende Schutzmaßnahmen unerlässlich. „Wölfe sind unglaublich lernfähig. Wir müssen Wege finden, ihnen einen Schritt voraus zu sein.“ Ob die Koexistenz langfristig gelingt? Marshall-Pescini bleibt vorsichtig optimistisch. „Was für uns als Gesellschaft akzeptabel ist, müssen wir gemeinsam festlegen.“Oliver Scheiber

Eine Frau mit Brille arbeitet an einem Computer mit Diagrammen.

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