Leben mit ME/CFS: Das Dunkel durchbrechen

Can not fall asleep.
Betroffene kämpfen gegen eine schwere Erkrankung und um Sichtbarkeit. Neue Forschungsprojekte geben Hoffnung.

ME/CFS entzieht Betroffenen nach und nach jede Kraft. Was früher selbstverständlich war, wird unmöglich. Selbst Ruhe bringt keine Erholung, stattdessen nehmen Benommenheit, Herzrasen, Schmerzen, kognitive Störungen sowie Licht- und Geräuschempfindlichkeit zu. Viele Betroffene verbringen ihre Tage in völliger Dunkelheit, selbst Augen und Ohren sind bedeckt. Schon der kleinste Reiz kann zu viel sein. Eine junge Frau beschreibt in einem Video der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS einen Schub so: „Wenn es ganz schlimm ist, verschlechtert sich alles: Ohrensausen, Gliederschmerzen sind stark und das Herz rast. Hinlegen hilft nicht, der Puls geht trotzdem weiter rauf.“

Bis zum „Crash“

Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom, kurz ME/CFS, ist eine neuroimmunologische Multisystemerkrankung. „Am häufigsten erkranken junge Erwachsene, vor allem Frauen“, sagt Prof. Kathryn Hoffmann, Leiterin der Primary Care Medicine an der MedUni Wien. Gemeinsam mit Verena Hackl, MSc untersucht sie das Leben schwer und sehr schwer Betroffener – Menschen, die ihren Alltag nicht mehr selbstständig bewältigen können und oft vollständig reizabgeschirmt leben müssen – und deren Angehörigen. Jede kleinste Belastung kann eine dramatische Verschlechterung auslösen.

Diese sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM) ist ein Kernmechanismus der Erkrankung. „Das ist eine teils massive, zeitverzögerte Verschlechterung nach körperlicher, geistiger, emotionaler oder sensorischer Belastung“, sagt Hackl. „Sie kann Stunden, Tage, Wochen oder länger dauern und im schlimmsten Fall zu einer dauerhaften Krankheitsprogression führen.“ Betroffene sprechen dabei von „Crashs“.

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Kathryn Hoffmann von der MedUni Wien

Kaum Unterstützung

Rund 80.000 Menschen leben in Österreich mit ME/CFS, davon sind etwa 14.000 schwer oder sehr schwer erkrankt. Unterstützung ist rar. „Schwerstkranke sind oft komplett reizabgeschirmt, auf Hilfe bei alltäglichen Handlungen angewiesen und arbeitsunfähig“, sagt Hoffmann. Gleichzeitig fehlen spezialisierte Versorgung, sozialrechtliche Abfederung und Strukturen für pflegende Angehörige. Für viele Familien bedeutet das körperliche, psychische und finanzielle Überlastung. Hinzu kommt ein Diagnoseweg, der im Schnitt fünf Jahre dauert – trotz WHO-Anerkennung seit 1969. Es ist unter anderem bekannt, dass ein Infektionsgeschehen (z. B. SARS-CoV-2, Influenza, Epstein-Barr-Virus) dem Auftreten der Krankheit in etwa 80 % der Fälle vorausgeht. Beschwerden werden jedoch noch immer missgedeutet und oft in den psychosomatischen Bereich verschoben.

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Verena Hackl von der MedUni Wien

Spezielle Methodik

Genau hier setzt die vom WWTF geförderte Forschung von Hoffmann und Hackl an: Sie wollen detailliert erfassen, wie Betroffene und ihre Familien leben, welche Versorgung sie benötigen und wo die größten Hürden und Lücken liegen. Erhoben werden die Daten über narrative und semi-strukturierte Interviews, die individuell angepasst werden. Das verlangt das Krankheitsbild, da klassische Interviews und Befragungen die Betroffenen überfordern würden. „Wir haben den Interviewleitfaden vereinfacht und verkürzt und denjenigen, die noch für ein gewisses Zeitfenster lesen und reden können, vorab geschickt. Somit konnten sie ihren Weg und ihre Erlebnisse im eigenen Tempo und in kurzen Sprachaufnahmen erzählen – oft erstreckte sich dies über Monate, was gesunde Menschen in einer halben oder einer ganzen Stunde in einem Interview erzählen würden.“ Ziel ist eine wissenschaftliche Grundlage für bessere Betreuung, telemedizinische Angebote und künftige Therapien.

Zucker als Schlüssel?

Währenddessen geht Dr. Davide Ret, Chemiker an der TU Wien, der Frage nach, ob sich Biomarker finden lassen, die auf den Mechanismus der Erkrankung hindeuten könnten. Er sieht einen möglichen Schlüssel in der Glykolisierung, der „Zuckersprache“ unseres Körpers. Dabei heften sich Zuckermoleküle an die Oberfläche von biologischen Strukturen wie Zellen, Proteinen, Antikörpern oder Lipiden. „Man kann sich diese Zucker wie Produktetiketten vorstellen: Sie verraten, was eine Zelle ist und welche Aufgabe sie hat“, sagt Ret. „Diese ,Zuckeretiketten’ bilden einen Code. Und wir glauben, dass dieser Code bei ME/CFS verändert oder gestört sein könnte.“

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Davide Ret von der TU Wien

Die Herausforderung: Die Analyse solcher Zuckerstrukturen ist technisch hochkomplex. „In der ME/CFS-Forschung blieb Glykomik weitgehend unberührt“, sagt Ret. „Wenn es uns gelingt, diese Strukturen sichtbar zu machen, könnten wir nicht nur die Ursachen besser verstehen, sondern auch messen, wie sich die Krankheit entwickelt – noch bevor sich für die Betroffenen etwas verändert.“ Solche Biomarker könnten langfristig gesehen Diagnose, Verlaufskontrolle sowie die wichtige Identifikation von ME/CFS-Subtypen ermöglichen.

Beide Projekte zeigen, wie vielschichtig ME/CFS ist – und wie wichtig gerade deshalb die interdisziplinäre Forschung ist, auch wenn sie noch in den Kinderschuhen steckt. Aber aus vielen Einzelbefunden entsteht am Ende ein gesamtheitliches Bild, das die Versorgung verbessert und neue Perspektiven eröffnet. „Menschen eine Stimme zu geben, die in der Gesellschaft keine mehr haben, ist mit Herausforderungen verbunden. Aber es ist möglich“, fasst Hackl zusammen.

Eine Frau mit Brille arbeitet an einem Computer mit Diagrammen.

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