Dialektforschung: Von Noagerln, Pängeln und Dreschflegeln
Wissen Sie, was eine Gattie ist? Was mit Base oder Pängel gemeint ist? Begriffe, die altmodisch anmuten. Tatsächlich stammen sie aus einer Zeit, in der Dialekt keine Stilfrage, sondern Alltag war. Das vom FWF geförderte Top Citizen-Science-Projekt des Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) holt diesen Sprachschatz nun mit dem „ABC der Dialekte“ ins digitale Zeitalter. Seinen Ursprung hat das Projekt in einem Forschungsprogramm von 1913. „Damals haben die Akademien in Wien und München beschlossen, den bairisch-österreichischen Sprachraum systematisch für das ,Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich‘ mit Hilfe der Bevölkerung zu dokumentieren“, sagt Sprachwissenschaftler Dr. Philipp Stöckle und ergänzt: „Da man keine Aufnahmegeräte hatte, wurde jeder Begriff, jede Redewendung handschriftlich notiert, mitunter auch mit Zeichnungen untermalt. Ob Lehrer, Pfarrer, Handwerker: Menschen aller Gesellschaftsschichten und -bereiche konnten mitmachen.“
Bewahren die Dialekte: Dr. Amelie Dorn und Dr. Philipp Stöckle
Ausgestattet mit Fragebögen – u. a. zu Themen wie Landwirtschaft, Brauchtum, Körper oder Geräte – und jeder Menge Kärtchen machten sich die Interviewer damals zu Fuß oder per Rad auf den Weg. Ihr Job: festhalten, wie man sprach. „Man hat so nicht nur den Dialekt dokumentiert, sondern auch das Leben, die Kultur, das soziale Umfeld, sprich das Zeitkolorit eingefangen. Für uns ist das heute ein wertvoller Sprach- und Kulturschatz“, sagt Sprachwissenschaftlerin Dr. Amelie Dorn von der ÖAW.
Auf diese Weise sind über Jahrzehnte drei Millionen Zettel mit Wörtern wie Püchlein, Noagerl oder Dreschflegel zusammengekommen. „Sprachliche Miniaturen aus dem Alltag – roh, ungefiltert, oft liebevoll notiert. Sie wurden in 900 Zettelkästen einsortiert und archiviert“, sagt Dorn. Auf jedem Handzettel ist neben der Fragebogennummer, der Ort der Erhebung und der Name des Sammlers notiert. Und natürlich der Begriff, nicht selten auch mit phonetischer Transkription. „Viele Karten sind in Lateinschrift, viele noch in Kurrentschrift verfasst. Manche Belege weisen längere Texte auf oder sind ob der Handschrift schwer zu lesen. Die Niederschriften weisen also unterschiedliche Charakteristika auf, auch das macht die Erforschung interessant“, erläutert Philipp Stöckle. Ein Großteil der Kärtchen wurde mittlerweile digitalisiert und ist öffentlich über das lexikalische Informationssystem Österreich (lioe.dioe.at) einsehbar. Lediglich die Buchstaben A, B und C harren noch der Transkription und Interpretation.
Amelie Dorn: „Hier setzt unser Citizen-Science-Projekt an: das ,ABC der Dialekte’. Wie vor 100 Jahren, ist auch heute wieder die Bevölkerung zum Mitmachen aufgerufen“, sagt die Wissenschafterin. Doch anders als einst, geschieht die Aufarbeitung heute mittels PC. Dafür wurden Teile der historischen Handzettel digitalisiert und online gestellt. Interessierte können sie über die Plattform Zooniverse abrufen und bearbeiten, „indem sie die alten Handzettel und Handschriften darauf transkribieren. Natürlich kann man die Begriffe auch reflektieren und mit persönlichen Kommentaren versehen. Unleserliches kann markiert, Durchgestrichenes vermerkt werden“, sagt Amelie Dorn und betont auch den generationenübergreifenden Moment. „Oft kennen Großeltern und Eltern althergebrachte Begriffe, können Kurrent bzw. alte Handschriften lesen. Die Kinder und Enkel wiederum tippen am Computer. Oder der Sohn erkennt alte Dialektbegriffe, der Vater recherchiert, was sie heute bedeuten.“ So entschlüsseln Familien und Gemeinschaften gemeinsam Sprachspuren aus einer Zeit, als Österreich noch von Landwirtschaft geprägt war und Dialekt das soziale Miteinander bestimmte.
„Wie schon vor mehr als 100 Jahren, ist auch heute wieder die Bevölkerung zum Mitmachen aufgerufen.“
Dr. Amelie Dorn, Sprachwissenschaftlerin ÖAW
Auf diese Weise entsteht eine Art generationenübergreifende Forschungswerkstatt. Das „ABC der Dialekte“ ist also mehr als ein wissenschaftliches Projekt. Amelie Dorn und Philipp Stöckle: „Es ist ein kollektives Erinnern: an Wörter, an Lebenswelten, an Stimmen, die sonst verloren gingen. Es zeigt, dass Citizen Science nicht nur Daten generiert, sondern auch Sprache und Kultur lebendig macht.“ Über diesen Online-Link können Sie das "ABC der Dialekte" mitgestalten: abc-mitmachen.acdh.oeaw.ac.at
„Es ist ein kollektives Erinnern: an Wörter, an Lebenswelten, an Stimmen, die sonst verloren gingen.“
Dr. Philipp Stöckle, redaktioneller Leiter des WBÖ
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