Pädagoge: "Nachhilfe, um den Nachwuchs zu verstehen"

Weiter als der Verstand reicht das Verständnis. Gerald Koller, Rausch- und Risikopädagoge des Forum Lebensqualität Österreich, beginnt seinen Vorstoß in die Lebenswelten von Jugendlichen mit einem klugen Spruch, den er beim Bäcker am Innsbrucker Hauptbahnhof gelesen hat. Das ist für ihn ein Ort der Entheimatung, mit dem Spruch hat er schon viel über den Zustand der heutigen Jugend gesagt, um die sich beim heurigen Forum Alpbach alles dreht.
Es geht um Verständnis, das aus dem Verstehen kommt – Verstehen, dass Jugendliche heute im Spannungsfeld zwischen Computerwelt, gestressten Familien und einer Gesellschaft, die sich in einem rasanten Wandel befindet, aufwachsen. Im Rahmen eines Seminars versuchten Experten in die Lebenswelten von Jugendlichen (so auch der Seminar-Titel) vorzudringen.
Ihre Situation ist von Druck geprägt, diagnostiziert Koller und greift zu drastischen Worten: "Daher finden viele Jugendliche ihre Zukunft ziemlich Arsch." Der Risikopädagoge weiter: "Das soziale Leben hat sich seit den 1960er-Jahren um das 35-Fache beschleunigt, besagt eine Studie – und die stammt aus 2002". Da habe es kaum Handys und keine iPads gegeben. "Daher kann man davon ausgehen, dass die Beschleunigung heute auf das mindestens 50-Fache angewachsen ist." Das illustriert auch ein Beispiel, das der Rauschpädagoge bringt: "Wir wissen, dass die Jugendlichen in der EU heute weniger trinken als jene der 1970er-Jahre. Aber: Sie trinken viel schneller." Das sei typisch für unsere Zeit-(Kultur).
Womit Koller bei den Zukunftserwartungen der Jugendlichen angelangt ist: "Lern was, dann kannst was, dann bist wer, dann geht’s dir gut, gehört der Vergangenheit an." Die Jugend sei auf der Suche nach ihrer Zukunft und finde nur Unsicherheit. Das mache aggressiv oder depressiv und nähre den Wunsch "zurück in die gute alte Zeit. Doch der einzige Weg da hinaus ist die totale Veränderung", sagt der Risikopädagoge. Die sei nur mithilfe stabiler Beziehungen und Risikobereitschaft zu meistern.
Inhomogen
Auch wenn immer von der Jugend die Rede ist: Die Experten verweisen darauf, dass es sich um eine inhomogene von Mikro- und Makro-Trends sowie Hormonen gesteuerte Masse handle: Was heute cool ist, ist morgen schon wieder völlig uncool. Oder, wie es ein Seminar-Teilnehmer ausdrückte: "Man braucht ständig Nachhilfe, um seinen Nachwuchs zu verstehen."
In ihrem Befund sind sich die Jugendexperten aber alle einig – nämlich die Themen, die Heranwachsende interessieren: der eigene Körper und Sexualität, Konsum, Sport und andere Freizeitaktivitäten, Sucht (einfach weil es dazugehört, in dieser Phase einiges auszutesten) und natürlich Party, Party, Party.
Womit wir bei der einzigen Möglichkeit sind, Jugendliche zu erreichen: Lebenslust und Genuss lauten die Zauberworte. Also: Warum nicht Bewegung und gesunde Ernährung über die Positivschiene vermitteln, statt mit dem erhobenen Zeigefinger, der – wenn wir uns erinnern – schon bei Generationen davor nichts gebracht hat.
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