Trendforscherin zur Zukunft der Medizin: Mehr Genuss, mehr Daten
Zusammenfassung
- Prävention, Daten und Eigenverantwortung prägen die Medizin der Zukunft, unterstützt durch KI und digitale Tools.
- Gesundheit wird zunehmend zum Lifestyle- und Statussymbol, wobei Genuss, Achtsamkeit und individuelle Gestaltung im Fokus stehen.
- Technologischer Fortschritt ermöglicht personalisierte Medizin und neue Rollenverteilungen im Gesundheitswesen, birgt aber auch Herausforderungen für Vertrauen und Gleichheit.
Die Medizin erlebt gerade eine Zäsur: Statt vor allem Krankheiten zu kurieren, wird Prävention zur Hauptaufgabe. In ihrem aktuellen Health Report 2026 zeigt die Trendforscherin Corinna Mühlhausen, wie Gesundheit in den nächsten Jahren zwischen Lifestyle, Daten, Genuss und Eigenverantwortung neu besetzt wird. Sie beobachtet seit Jahrzehnten, wie sich unser Gesundheitsverständnis vom reaktiven Reparaturbetrieb hin zum aktiven Gestalten wandelt – ein System im Umbruch, in dem Patienten, Ärzte und digitale Tools neu zusammenspielen müssen. Im Interview spricht sie über Chancen und Widersprüche, Selbstoptimierung, Datenvertrauen, medizinische Zukunft – und die Frage, ob Gesundheit künftig mehr Spaß machen darf.
Wie würden Sie den aktuellen Gesundheitswandel beschreiben?
Wir stehen an einer Schwelle zu einer großen Transformation – und zwar, weil sie notwendig ist. Unser System war jahrzehntelang reaktiv: Wir haben Krankheiten behandelt, statt sie zu verhindern. Jetzt müssen wir proaktiv werden – in der Politik, in der Medizin und auch als Individuen. Bisher wurde Verantwortung gern hin- und hergeschoben, aber das funktioniert nicht mehr. Wir müssen neue Brücken bauen und gemeinsam Lösungen finden. Ziel ist ein System, das Krankheiten voraussieht und ihnen vorbeugt, statt sie nur zu verwalten.
Was heißt das konkret?
Wir müssen weg vom Reparaturbetrieb und hin zu einem präventiven, prädiktiven System. Mit Hilfe von Daten können wir Risiken erkennen, bevor sie zum Problem werden. Diese Daten sind längst vorhanden – die Krankenkassen sitzen auf einem Schatz, dürfen ihn aber kaum nutzen. Dafür müssen wir die Angst vor Datenmissbrauch ablegen und lernen, diese Informationen verantwortungsvoll einzusetzen.
Sind die Menschen bereit dafür?
Viele ja. Es gibt eine wachsende Gruppe, die Gesundheit aktiv gestalten will – und eine kleinere, die sich völlig entzieht. Der Wunsch, selbst etwas zu tun, ist groß. Und zwar nicht nur im Lifestyle-Sinn, sondern als echte gesundheitliche Vor- und Fürsorge.
Wie weit ist dieser Wandel schon in der Praxis angekommen?
Ehrlich gesagt: kaum. In Deutschland fließen nur rund fünf Prozent der Gesundheitsausgaben in Prävention, in Österreich knapp neun – viel zu wenig. Dabei wissen wir, dass sich jeder Euro, der in Vorsorge investiert wird, mehrfach auszahlt: ökonomisch, sozial, individuell. In Deutschland wären jedes Jahr etwa 124.000 Todesfälle vermeidbar, wenn wir Prävention ernster nähmen. Das ist erschütternd – und es zeigt, dass wir uns ein rein kuratives System nicht mehr leisten können.
Welche Rolle könnte da Selbstvermessung künftig spielen?
Eine doppelte. Sie ist empowernd, weil sie das Gefühl von Selbstwirksamkeit stärkt. Gleichzeitig kann sie überfordern, weil sie meist im sogenannten zweiten Gesundheitsmarkt stattfindet – also in Fitness, Ernährung, Schlaftracking. Der erste Gesundheitsmarkt – Ärzte, Kassen, Pflege – nutzt diese Daten kaum. Wenn meine Hausärztin meine Smartwatch-Daten mit einbeziehen könnte, wäre das ein echter Paradigmenwechsel.
Trendforscherin Corinna Mühlhausen im Gespräch
Wie könnte so etwas praktisch aussehen?
Apotheken oder Krankenkassen könnten Beratungen auf Basis dieser Daten anbieten – niederschwellig, vielleicht in Gruppen. Das muss keine teure Privatmedizin sein. Entscheidend ist, dass wir die Nutzung digitaler Daten entdramatisieren. So entstehen neue Berufsbilder und bessere Begleitung für Patienten.
Thema Selbstoptimierung: Wie viel ist gut, wann kippt sie ins Gegenteil?
Ich sehe da vor allem bei den späten Babyboomern, also 60 plus, einen interessanten Punkt. Diese Generation hat ihr Leben lang unter den Werten von Freiheit, Individualität und Selbstverwirklichung gelebt – und empfindet das eigene Altern nun fast als persönliche Beleidigung. Das führt manchmal zu einem übersteigerten Wunsch, den Körper zu kontrollieren oder das Altern aufzuhalten. Jüngere Generationen gehen da bewusster und oft entspannter mit sich um. Sie kümmern sich um ihre Gesundheit, machen Sport, achten auf Ernährung – aber weniger aus Angst, älter zu werden, sondern aus einem echten Verantwortungsgefühl heraus. Grundsätzlich finde ich: Jede Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper hat etwas Positives, auch wenn sie der Schönheit dient. Entscheidend ist, ob ich etwas tue, weil es mir guttut – oder weil ich einem Ideal hinterherlaufe.
Und damit im Zusammenhang: Longevity, Biohacking, „Forever Young“ – wo endet Lifestyle, wo beginnt Medizin?
Longevity ist kein einzelner Trend, sondern ein Dach über vielen. Es geht um die Frage: Wie kann ich mein Altern gestalten? Natürlich gibt es Extreme – vom Silicon-Valley-Biohacker bis zur Vitamininfusion. Aber grundsätzlich ist das Interesse an Selbstoptimierung gut. Interessant ist, dass viele Menschen damit Achtsamkeit verbinden. In unserer Healthstyle-Studie sagte ein Drittel, Selbstoptimierung sei für sie ein Synonym für Achtsamkeit. Das ist eine neue Perspektive – weg vom „höher, schneller, weiter“, hin zu bewusster und ruhiger.
Wird Gesundheit zum Statussymbol?
Ja, Gesundheit ist längst ein Distinktionsmerkmal. Wer Geld, Bildung und Zugang hat, kann sich besser um sich kümmern. Deshalb brauchen wir Gesundheitsbildung von klein auf. Wissen ist die wichtigste Ressource gegen soziale Ungleichheit im Gesundheitswesen. Natürlich wird es auch künftig Luxus-Retreats geben, wo Menschen für viel Geld an ihrer Ganzheit arbeiten – aber das darf nicht der Standard werden. Wir müssen dafür sorgen, dass niemand zurückbleibt.
Welche „Healthstyles“ werden künftig noch wichtig sein?
Erstens: die Rückkehr des Spaßes. Gesundheit soll wieder Freude machen, nicht stressen. Zweitens, die Anpassung an den Klimawandel: Sportevents müssen sich beispielsweise verschieben, weil Hitze zunehmend zum Problem wird. Drittens: der digitale Fortschritt. Bessere Analysen, prädiktive Modelle, personalisierte Empfehlungen. Lust, Klima und KI – das sind die Treiber der Gesundheitskultur von morgen.
Und wie wird sich Künstliche Intelligenz noch auf der medizinischen Ebene auswirken?
Sie wird das System tiefgreifend verändern – in Diagnostik, Therapie, Forschung. Schon jetzt steckt sie in unzähligen Anwendungen. Noch revolutionärer ist das Genom-Editing: Genetische Krankheiten könnten verhindert werden, bevor sie entstehen. Das wirft ethische Fragen auf – nach Zugang, Sicherheit, Gleichheit. Auch die Mikrobiom-Forschung zeigt eine enorme Dynamik. Wir wissen inzwischen, dass Darmbakterien nicht nur Verdauung und Immunsystem, sondern auch die Psyche beeinflussen. All das führt zu einer wirklich personalisierten Medizin. Die Zeit der Einheitsdosis ist vorbei – in Zukunft werden Medikamente individuell dosiert, nach Geschlecht, Alter und Genetik.
Immer mehr Technik in Medizin und Gesundheit: Chance oder Risiko?
Beides. Aber Technik kann helfen, ganzheitlicher zu denken. Künstliche Intelligenz wird dabei zum Schlüssel, weil sie enorme Datenmengen analysieren und bislang unsichtbare Zusammenhänge erkennen kann – etwa zwischen Krankheitsbildern, Lebensstil und Wirkstoffwirkung. Spannend ist in diesem Kontext, wie vorhandene Medikamente für neue Indikationen genutzt werden, zum Beispiel bei Post-Covid. In Zukunft wird es weniger neue Substanzen geben, dafür mehr intelligente Nutzung bestehender Wirkstoffe.
Apropos Covid. Viele Menschen haben in der Pandemie Vertrauen in das Gesundheitssystem verloren. Wie lässt sich das wiederherstellen?
Indem wir ehrlich zurückblicken. Die Pandemie wurde nie wirklich aufgearbeitet. Viele fühlten sich bevormundet, übergangen, missverstanden. Das hat die Gesellschaft gespalten. Vertrauen kann man nur durch Transparenz und Kommunikation auf Augenhöhe zurückgewinnen – indem alle Gruppen gehört werden und Reformen nachvollziehbar sind.
Wie werden sich die unterschiedlichen Rollen im Gesundheitswesen verändern?
Die Pflege wird von der Digitalisierung stark profitieren. Wenn Maschinen Dokumentation übernehmen, bleibt wieder Zeit für echte Zuwendung – und der Beruf wird attraktiver. Ärzte werden stärker beratend, moderierend, verbindend wirken: als Lotsen zwischen medizinischem Wissen und dem, was Patienten selbst beitragen. Digitalisierung kann helfen, mehr Begegnung zu ermöglichen, nicht weniger.
Wie sieht ein Krankenhaus im Jahr 2040 aus?
Eine spannende Frage. Ruhiger. Und vor allem besser riechend. Ich glaube, das Sinneserlebnis wird sich verändern. Keine überfüllten Notaufnahmen, keine apokalyptische Lautstärke mehr. Digitale Triagierung, strukturierte Abläufe, mehr Ruhe und Würde. Technik wird helfen, das Chaos zu ordnen – zugunsten von Menschlichkeit.
Und wie halten Sie sich gesundheitlich fit?
Mit Bewegung, ich schwimme wahnsinnig gerne. Zum einen, weil es mir Spaß macht, womit wir wieder beim hedonistischen Gesundheitsverständnis sind. Zum anderen, weil ich überzeugt bin, dass es mir gut tut und ich beweglicher bleibe. Es ist wichtig, genussvollen mit gesundheitsbewusstem Lebensstil zu verbinden.
Kommentare