Rheumatologe warnt: "Wer zu viel misst, misst Mist"

Dr. Martin KasparRheumatologe
Rheumatische Erkrankungen stellen das Leben auf den Kopf. Beschwerden müsse man sofort ernst nehmen – aber nicht alle Menschen mit Symptomen sind automatisch betroffen.

Hunderttausende Menschen sind alleine in Österreich davon betroffen, und es werden immer mehr: Rheuma.  Es ist oft mehr als eine reine Gelenkerkrankung, es betrifft den ganzen Körper, auch Organe können dadurch beeinträchtigt werden. Moderne Medikation bringt Linderung, Wissenschafter arbeiten zudem unter Hochdruck an einer Methode zur Heilung, verrät Dr. Martin Kasper im Interview.

Dr. Martin Kaspar
Rheumatologe

Dr. Kasper in seiner Ordination in der Wiener City: Ultraschall wird eingesetzt zur Früherkennung rheumatischer Erkrankungen.

Rheumatische Erkrankungsfälle nehmen zu, warum ist das so? 
Dr. Kasper: Bis heute ist es leider so, dass wir nicht wissen, woher genau Rheumatismus kommt. Fest steht, es ist multifaktoriell. Das bedeutet, dass wir viele Faktoren annehmen, die zusammenspielen. Und welche sind das? Zum einen die Genetik, zum anderen die Belastung von Umweltgiften. Vielleicht sind infektiologische Erkrankungen ebenso zu vermuten. Und letztlich werden wir ja immer älter, wobei Rheuma jedes Lebensalter betreffen kann.

Leiden denn auch immer mehr Jüngere darunter? 
Ja. Diese wahrscheinlich wegen infektiologischen Prozessen, vor allem die Pandemiezeit ist hier ins Treffen zu führen. Wir wissen, dass jede Infektionserkrankung per se etwas mit dem Immunsystem macht. Das heißt, jedes Virus, jedes Bakterium aktiviert die körpereigene Abwehr. Und eine Autoimmunerkrankung zu haben, bedeutet, dass der Körper die Immunität gegen sich selbst verliert.

In der Medikamentenforschung sind Biologika gegen Rheuma als Gamechanger deklariert. 
Korrekt. Bis in die 2000er-Jahre hatten wir sogenannte konventionelle Basistherapien. Das waren Medikamente, die man in der Regel zum Schlucken eingenommen hat und die breit angefächert das Immunsystem ein bisschen nach unten gefahren haben. Biologika aber sind biotechnologisch hergestellte, hocheffektive Medikamente, die zielgerichtet in den Autoimmun- oder Entzündungsprozess eingreifen, genau dort wo es nötig ist, und Schmerzen lindern.

„10 Kilo mehr Gewicht bedeuten 40 Kilo mehr Belastung auf dem Knie. Der BMI sollte unter 25 sein, Rauchen vermieden werden, Alkohol in Maßen, stattdessen Sport.“

von Dr. Martin Kaspar

Könnten sie uns eines Tages auch heilen? 
Derzeit leider nicht. Wir wissen aber, dass bei einem frühzeitigen Einsatz des Medikaments der Ausbruch eines vollen Rheumatismus gestoppt werden kann. Aber nur, wenn das Vollbild der Erkrankung noch nicht ausgebrochen ist.

Welche Medikation hat noch Potenzial? 
Seit fünf, sechs Jahren sind Medikamente am Markt, die wir als kleine Moleküle bezeichnen. Sie verändern intrazelluläre Entzündungsaktivierung. Während die Biologika subkutan oder über die Vene zu geben sind, sind das Tabletten,  die man schlucken kann. Es gibt auch bereits Fallberichte, die tatsächlich dort ansetzen, dass man Rheuma heilen will und Patienten dabei bereits auch als geheilt gelten. Dieser Ansatz kommt aus der Onkologie über die Aktivierung körpereigener Zellen. In der Behandlung von Leukämie kommt das schon zum Einsatz. Das steht noch ganz am Beginn der Forschung, aber scheint tatsächlich der erste Ansatz in der Medizin zu sein, dass rheumatische Erkrankungen geheilt werden können.

Stichwort Früherkennung: Ab wann sollte man zur Untersuchung gehen? 
Sehr typisch für die Entzündung in einem Gelenk sind Schmerzen, die in Ruhe auftreten, Schmerzen, die in der Nacht kommen, oder wenn ich zum Beispiel auf der Hüfte nicht schlafen kann. Weiteres Alarmsignal ist eine Morgensteifigkeit und der Umstand, wenn man bis zu einer Stunde nach dem Aufstehen das Marmeladenglas noch nicht aufmachen kann. Auch bei einem geschwollenen Gelenk muss man zum Rheumatologen und insbesondere, wenn die Beschwerden länger als sechs Wochen andauern. Das ist eine goldene Regel.

Dr. Martin Kaspar
Rheumatologe

Dr. Kasper in seiner Ordination in der Wiener City: Ultraschall wird eingesetzt zur Früherkennung rheumatischer Erkrankungen.

Sollte man ohne Schmerzen auch zur Untersuchung kommen, im Rahmen einer Vorsorge? 
Nein, eigentlich nicht. Ich sehe leider immer wieder Patienten, die gar keine Beschwerden haben, aber aufgrund eines Labors zu mir kommen, wenn dort im Blut spezifische Faktoren gemessen wurden. Aber: Diese Parameter können auch positiv sein, ohne dass es Rheuma ist. Ab 65 Jahren ist das bei 20 Prozent der Patienten der Fall. Die Patienten sind dann irritiert, verängstigt und verunsichert, und kommen in diese medizinische Kaskade. Wer zu viel misst, misst Mist. Es geht darum zielgerichtet bei Symptomen zu suchen, aber nicht ins Blaue hineinzugehen. Gesundheitsökonomisch sind diese Untersuchungen außerdem sehr teuer.

Wie ist es, wenn es in der Familiengeschichte Erkrankungsfälle gab? 
Wenn es Verwandte gibt mit Morbus Crohn oder Schuppenflechte, ja. Das äußert sich manchmal auch in anderen Krankheitsbildern. Zum Beispiel: Mein Vater hat Schuppenflechte, ich nicht. Aber ich habe plötzlich eine Entzündung in den Gelenken. Dann hat das die Erberkrankung zugrunde liegend. Früherkennung und Diagnostik machen dann natürlich auch Sinn.

Gibt es Lebensumstände, die Rheuma beschleunigen oder verhindern können? 
Nahrungsmittel können entzündliche Prozesse auslösen. Allen voran tierische Fette, das heißt, die gesättigten Fettsäuren sind nicht gut. Das sind: der klassische Schweinsbraten, die Rindsuppe, die Rindsrouladen. Diese können tatsächlich rheumatische Beschwerden auslösen, während hingegen gilt: je vegetarischer oder pescetarischer man sich ernährt, desto besser ist dem vorzubeugen. Außerdem gilt: Omega-3- statt Omega-6-Fettsäuren.

Wie läuft die Untersuchung ab? 
Zuerst gibt es eine Anamnese, wofür leider im Gesundheitssystem zumindest bei Kassenärzten immer weniger Zeit zur Verfügung steht. Hier bräuchte es eine große Veränderung in der Vergütung der medizinischen Leistungen, da es sich für Ärzte sonst nicht rechnen kann, wenn sie ausreichend Zeit für ein Patientengespräch aufbringen. Das braucht es aber, um gute Diagnosen stellen zu können und die richtigen Untersuchungen anzuschließen. Die reichen von Blutabnahme, Ultraschall bis Röntgen.

Welche Rolle spielt das Gewicht bei Gelenksentzündungen? 
Es gibt die Hochrechnung, dass zehn Kilo mehr Körpergewicht 40 Kilo mehr Belastung auf dem Knie bedeuten. Wer also über dem Normalgewicht liegt, hat hier im wahrsten Sinne des Wortes schwer zu tragen. Der BMI sollte unter 25 sein, Rauchen sollte vermieden werden, weil in der Mundhöhle Immunprozesse in Gang gesetzt werden. Und Alkohol in Maßen, stattdessen Sport.

Welche Sportart ist dabei die geeignetste? 
Schwimmen und Radfahren. Das klassische Laufen ist das Schlechteste für die Gelenke. Tolle Alternative dazu: Nordic Walking. Und es braucht auch ein gezieltes Krafttraining. Was, wenn ein Gelenk bereits stark abgenutzt ist, und schmerzt.

Wie steht es um den Einsatz von Prothesen? 
Wir Rheumatologen tauschen uns immer mit Orthopäden aus, deren Fachgebiet es ja ist, wenn es über die Entzündung hinausgeht. Und da hat sich in der Implantologie tatsächlich wahnsinnig viel getan in den vergangenen 20 Jahren, von künstlichen Hüften bis Schultern. Ein großes Thema ist auch die minimalinvasive Eingriffstechnik; die Schnitte werden immer kürzer, dadurch gibt es weniger Blutverlust, schnellere Rehabilitation. Insgesamt werden die Therapien postoperativ, aber auch vorbeugend immer individueller. Nicht zuletzt deshalb braucht es auch eine Abkehr von der so genannten Dreiminuten-Anamnese. Alles geht in Richtung individueller Behandlung. Und das braucht einfach Zeit, das ist keine Fließbandarbeit.  

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