Achterbahn
Es folgt eine Woche geprägt von einer hormonellen Achterbahn, vom Festhalten an einem Strohhalm und vom Bauchgefühl, dass es sowieso vorbei ist. Und ständigen Fragen: Habe ich mich nicht genug gefreut? Hätte ich besser auf mich aufpassen müssen? Was habe ich falsch gemacht? Quälende Tage. Und Nächte.
Die finale Untersuchung. Wieder kein Herzschlag. Mit der Gewissheit, erklärt mein Arzt die Möglichkeiten, die ich jetzt habe: Warten, bis es von selbst mit einer Regelblutung abgeht. Eine Art Abtreibungspille nehmen, die allerdings keine hundertprozentige Garantie gibt, dass es funktioniert. Oder eine Ausschabung (Curettage).
Ich will, dass es endlich vorbei ist und entscheide mich für den dritten Weg. Ich fühle mich wie in Trance. Dieser Albtraum kann nicht wahr sein. Ich weiß, dass Fehlgeburten häufig vorkommen. Es gibt keine offizielle Statistik, aber Schätzungen zufolge endet jede dritte bis sechste Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt. Das Risiko ist in den ersten drei Monaten am höchsten.
Als Betroffene fragt man trotzdem ständig nach dem Warum. „Es gibt keine Erklärung, außer, dass der Embryo wahrscheinlich nicht gesund war und sich deshalb nicht weiterentwickelt hat“, sagt mein Arzt. „So was passiert leider.“ Ich gehe am nächsten Tag wieder arbeiten. Ein Schritt nach dem anderen.
Trauer in Wellen
In den folgenden Monaten versuche ich, die Zeit mit meiner Tochter noch mehr zu genießen als sonst. Gleichzeitig stelle ich mir vor, wie sehr sie sich über ein Geschwisterchen gefreut hätte. Wie mein Bauch jetzt gewachsen wäre. Wie ich die Bewegungen meines Kindes spüren würde. Am schlimmsten ist die Woche, in der es zur Welt gekommen wäre. Unendliche Trauer.
Es dauert fast zwei Jahre, bis ich wieder einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen halte. Diesmal ist die Freunde unendlich. Diesmal will ich alles richtig machen.
Aber auch diesmal gibt es beim Timing einen Haken: Ich bin Covid-positiv, die Symptome halten sich in Grenzen. Und: Wir gehen demnächst auf eine große Reise. „Wenn die Schwangerschaft bis dahin in Ordnung ist, sollte eine Flugreise kein Problem sein“, sagt mein Arzt. Auch eine zweite Meinung gibt mir grünes Licht.
Kurz vor der Reise noch ein letzter Check: Das Herz schlägt, wir können auf dem Ultraschall sogar die Finger erkennen – und erfahren dank Bluttest, dass es ein Bub wird. Bei unserer Tochter hat es die ganze Schwangerschaft gedauert, sich auf einen Namen zu einigen. Diesmal sind wir uns am selben Tag einig.
Wir treten unseren vermeintlich letzten Urlaub zu dritt an. Der Arzt empfiehlt, vor Ort noch einen Ultraschall zu machen. Eine Routineuntersuchung, zur Sicherheit. Wir freuen uns darauf, unseren Sohn wiederzusehen. Auf dem Bild ist er gewachsen, 11,2 Zentimeter vom Scheitel bis zum Steiß. Plötzlich räuspert sich die Ärztin: „Es tut mir leid, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Ich sehe keinen Herzschlag.“
Bumm
Ich höre wieder meinen Herzschlag im Ohr. Die Ärztin schallt weiter, um sicher zu gehen. Dann lässt sie uns alleine, um die Nachricht sacken zu lassen. Tags darauf bin ich wieder vor der Entscheidung, welchen Weg ich wähle. Es wird wieder eine Ausschabung. Eine Krankenschwester fragt, ob ich die Überreste meines Babys mitnehmen möchte. Unbedingt. Ich will ihn bestatten.
Die letzten Urlaubstage blende ich das Unglück komplett aus. Ich kann sogar lachen. Gleichzeitig gehe ich jede Sekunde durch: Wann ist es passiert? Was habe ich falsch gemacht? Ich will eine Antwort. Doch die gibt es auch diesmal nicht. Mein Mann trauert, doch ich schaffe das nicht. Der Schmerz ist zu groß, um nur annähernd hinzufühlen. Irgendwann merke ich, dass ich mir Hilfe holen muss, sonst stürze ich in ein unendliches Loch.
Es ist verrückt, wie viele Frauen aus meinem Umfeld mir offenbaren, dass ihnen das auch schon „passiert“ ist. Warum erfährt man das nur mit vorgehaltener Hand? Warum erst dann, wenn man selbst fast daran zugrunde geht? Das hat mich motiviert, diesen Text zu schreiben.
Meine wichtigste Erkenntnis, die ich mir immer wieder vor Augen halte: Weltweit gibt es Millionen Frauen, die unter widrigsten Bedingungen schwanger sind – und sie bringen ihre Kinder trotzdem zur Welt. Gleichzeitig gibt es Millionen Frauen, die versuchen alles richtig zu machen – und trotzdem eine Fehlgeburt erleiden. Keiner kann sagen, warum das eine Kind es schafft und das andere nicht.
Ich habe eine vierjährige Tochter. Und zwei Kinder, die ich für immer in meinem Herzen tragen werde.
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