Leben als hochsensibler Mensch: Was wirklich hilft

Sie reagieren überempfindlich auf Geräusche, ziehen sich bei fast jedem Trubel zurück oder geraten scheinbar aus dem Nichts in emotionale Turbulenzen: Bereits im Kindheitsalter erleben Hochsensible den Alltag wie einen viel zu grellen Film. „Eltern merken früh, dass ihr Kind anders reagiert – intensiver, empfindlicher, feinfühliger“, sagt Monika Gumpoltsberger. Die diplomierte Sozialarbeiterin und zertifizierte Lebens- und Sozialberaterin hat sich auf Hochsensibilität spezialisiert. „Reize werden tiefer verarbeitet als bei durchschnittlich sensitiven Menschen – mit Folgen für Verhalten, Konzentration, Belastbarkeit und Selbstbild. „Bei Hochsensiblen ist das Nervensystem besonders reizoffen. Reize werden tiefer verarbeitet als bei durchschnittlich sensitiven Menschen.“ Das kann im Alltag herausfordernd sein, besonders für Kinder, die noch keine Strategien zur Regulation entwickelt haben. „Sie nehmen vieles intensiver wahr, können sich aber schlecht abgrenzen und sind schnell überflutet“, so Gumpoltsberger.
„Ich bin hochsensibel, das ist okay“
Sie weiß genau, wovon sie spricht, sie ist selbst betroffen. Eine Freundin machte sie darauf aufmerksam und schenkte ihr ein Buch zum Thema. Das war der Beginn eines tiefgreifenden Erkenntnisprozesses. „Ich habe auf einmal so vieles verstanden. Warum ich mich oft nicht integrieren konnte, warum mich Smalltalk stresst oder ich familiäre Grenzüberschreitungen nur sehr schwer aushalte.“ Im Laufe der Zeit konnte sie sich von vielen Glaubenssätzen lösen, etwa: „Das tut man nicht. So spricht man nicht. Man darf nicht anecken.“ Besonders prägend war ein innerfamiliärer Konflikt. „Damals hörte ich oft: Du bist zu empfindlich. Heute weiß ich: Ich bin hochsensibel – und das ist okay.“
Hochsensibilität ist ein relativ junges Konzept, das die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron durch persönliche und berufliche Erfahrungen entwickelte. In ihrer psychotherapeutischen Praxis fiel ihr auf, dass manche Menschen besonders intensiv auf Reize, Stimmungen und soziale Feinheiten reagierten – deutlich stärker als andere. Getrieben von der Frage, ob dies ein vernachlässigter Persönlichkeitstyp sei, begann sie in den 1990er-Jahren mit systematischen Interviews, entwickelte daraus ihr Modell und veröffentlichte 1997 das Buch „The Highly Sensitive Person“. Um eine klassische „Diagnose“ handelt es sich dabei nicht, sondern um ein Persönlichkeitsmerkmal. „Deshalb sollte man diese Menschen nicht pathologisieren, sondern stärken“, so Gumpoltsberger. „Hochsensible benötigen ein gutes Selbstmanagement, ein verständnisvolles Umfeld und die Möglichkeit, sich so zu entfalten, wie es ihrer Veranlagung entspricht.“ Es wird angenommen, dass Hochsensibilität genetisch mitbedingt ist – oft findet sie sich bei mehreren Familienmitgliedern.

Extrovertiert und hochsensibel?
„Hochsensibilität gehört zu den Phänomenen, die im weiten Feld der Neurodivergenz verortet sind“, sagt Dr. Christina Blach, klinische und Gesundheitspsychologin aus Graz, die ebenfalls auf das Thema spezialisiert ist. In ihrer Dissertation hat sie sich mit dem Konzept wissenschaftlich auseinandergesetzt. „Hochsensibilität ist nicht gleichzusetzen mit Schüchternheit oder Introversion“, betont sie. Zwar wirken viele Betroffene zurückhaltend oder ziehen sich aus lauten, reizintensiven Kontexten zurück – doch das liegt nicht zwangsläufig an einer introvertierten Persönlichkeit. Es gibt sehr wohl hochsensible Menschen, die extravertiert sind.
Dass das Phänomen bis heute keine diagnostische Verankerung hat, liegt vor allem an der schwierigen Messbarkeit. „Wir haben aktuell nur Fragebögen zur Verfügung und die sind in ihrer Konstruktion höchst anfällig“, erklärt die Expertin. Die meisten Items seien leicht durchschaubar und stark von sozial erwünschten Antworten geprägt. Wer sich als hochsensibel wahrgenommen wissen will, kann gezielt entsprechende Aussagen ankreuzen. „Insgesamt steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen“, so Blach. Erste bildgebende Studien deuten darauf hin, dass bei Hochsensiblen andere neuronale Netzwerke aktiviert werden.
Warum aber erfahren Begriffe wie Hochsensibilität aktuell so enorme Popularität? Für viele sei das Label ein Türöffner zur Selbstannahme. Es ist eine Erklärung, ein Halt, ein Gefühl von „Ich bin nicht allein“. Blach kennt diesen Effekt aus ihrer Praxis: „Viele Betroffene berichten, dass sie sich jahrelang wie Aliens gefühlt haben. Wenn sie dann erfahren, dass es einen Begriff gibt, der ihre Wahrnehmung beschreibt – und dass es andere gibt, denen es ähnlich geht – ist das oft schon die halbe Miete.“
Das birgt auch Risiken. „Der Begriff ist ein bisschen zum Lifestyle-Etikett geworden, vor allem durch soziale Medien“, sagt die Expertin. Ein weiteres Problem liegt in der ungenauen Differenzierung: Hochsensibilität wird häufig mit ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen, Burnout oder Angsterkrankungen verwechselt. „Viele Symptome überschneiden sich, gerade in stressreichen Lebensphasen.“
Hochsensibilität als Ressource
Blach betont, dass Hochsensibilität nicht nur mit Herausforderungen verbunden ist, sondern auch eine wertvolle Ressource darstellen kann. „Betroffene erleben zum Beispiel Kunst, Musik oder Natur in tiefer Verbundenheit. Viele erzählen, dass sie beim Hören eines Musikstücks weinen müssen, oder dass sie sich mit der Natur eins fühlen, während andere davon nichts mitbekommen.“ Diese emotionale Tiefe sei eine große Stärke und Herausforderung zugleich.
„Was diese Menschen brauchen, ist die Fähigkeit, die eigene Reizschwelle ernst zu nehmen, sich Pausen zuzugestehen und die eigene Lebensführung anzupassen. Und sie sollten lernen, sich nicht an gängigen Leistungsbegriffen zu messen, das betrifft auch die Berufswahl.“ Was ebenfalls hilft: Yoga, Natur, Achtsamkeit und sich bewusst Zeit für sich alleine nehmen.
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