Wie ich lernte, den Schrittzähler zu hassen

hiker legs hiking on stone trail
10.000 Schritte am Tag sollen gesund machen. Doch manchmal fühlt es sich eher an wie ein moderner Ablasshandel – mit der App als Beichtvater.
Gabriele Kuhn

Gabriele Kuhn

Es gibt viele Zahlen, die unser Leben bestimmen: Kontostand, Kalorien, Follower, Likes und der Verbraucherpreisindex. Neuerdings auch Schritte. 10.000 sollen es sein, mindestens, lese ich immer wieder. Ich weiß bis heute nicht, wer diesen magischen Geh-Punkt erfunden hat. Man munkelt, es wäre ein japanischer Pedometer-Hersteller gewesen, der in den 1960er-Jahren dringend Absatz brauchte. Damals hieß der Zähler „Manpo-kei“ – für: „10.000-Schritte-Messer“. Das verkaufte sich gut – aber wissenschaftlich war es nie belegt.

Vor Kurzem haben Forscherinnen und Forscher im Lancet Public Health 57 Studienausgewertet und festgestellt: Bereits 7.000 Schritte am Tag senken das Risiko für etliche schwerwiegende Erkrankungen. Heißt: Die Menschen sind Jahrzehnte lang freiwillig 3.000 Schritte zu viel gelaufen. Puh. Da könnte man doch glatt eine Art Sammelklage einbringen. Denn genau das ist ständig auch mit mir passiert: Es ist 22:47 Uhr, ich habe 9.847 Schritte und renne wie eine Irre durch die Küche, kreise um den Esstisch, und drehe im Vorzimmer hechelnd Runden.

Jeder Schritt ein Mantra, jede Runde um den Block ein Ablasszettel fürs Kipferl am Nachmittag oder den Aperol Spritz am Abend. Man schaut nicht mehr auf Bäume oder in Schaufenster, sondern starrt aufs Display. „Oh, noch 3.562 Schritte!“.

Früher war Spazierengehen eine gemütliche Sache. Man ging, einfach so. Vielleicht mit Hund, vielleicht mit Kind, vielleicht mit einem Eis in der Hand oder einem aktuellen Lover, eng umschlungen. Heute gleicht das Gehen einer Bußprozession. Statt Rosenkranz halte ich das Handy in der Hand, dazu vibriert die App. Operation „Step Storm“: Jeder Schritt ein Mantra, jede Runde um den Block ein Ablasszettel fürs Kipferl am Nachmittag oder den Aperol Spritz am Abend. Man schaut nicht mehr auf Bäume oder in Schaufenster, sondern starrt aufs Display. „Oh, noch 3.562 Schritte!“. Ab durch den Park, egal ob es schüttet, schneit oder 36 Grad im Schatten hat. Hauptsache, die App gibt den Segen. Das Absurde: Wir wissen genau, dass 10.000 willkürlich sind, doch der Leistungswille schlägt jede Vernunft. Einmal 9.999 erreicht, und man fühlt sich wie ein Ketzer. Einmal 14.000 und man wähnt sich im Paradies. Wie erwähnt: Ich habe das eine Zeit lang sehr ernst genommen, lief morgens los, nachmittags noch einmal, abends das große Finale als Marschallin. Das Ergebnis: viel Arbeit für die Podologin, ein übervoller Schrittzähler und die Erkenntnis, dass kein Mensch dadurch automatisch in den Himmel kommt. Gesund? Ja, eh. Aber macht’s lebensfroh? Da hilft eher ein gutes Glas Wein. Ein Sofa, das nicht vorwurfsvoll piept. Ein Buch, in das man sich verliert. Gespräche, Tanzen, Kopfstände, blöd schauen. Vielleicht ist das der eigentliche Punkt: Dass wir uns von Geräten, Thesen und Trends diktieren lassen, was wir tun sollten. Dabei wüsste der Körper es auch selbst. Der würde vielleicht sagen: „Du bist müde, setz dich endlich hin.“ Oder: „Es reicht, mach’s dir jetzt schön.“ Und so habe ich irgendwann beschlossen, einfach nur zu gehen. Ohne Zählen, ohne Piepsen, ohne schlechtes Gewissen. Wenn ich dann doch nur 9.847 Schritte habe? Lege ich mich trotzdem zufrieden ins Bett. Und träume von einer Welt ohne Absolution, in der Schritte verfallen wie Payback-Punkte.

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