Zauberlehrlinge im globalen Daten-Strom

Zwei Frauen unterhalten sich vor einer Wandmalerei mit dem Facebook-Logo und einer Fabrikszene.
Fluch oder Segen? Die Menschen haben die Netzwerk-Geister gerufen. Aber wie gut tut diese Form der Öffentlichkeit dem Wesen der Demokratie?

Jeden Tag das gleiche Bild. Jugendliche verlassen das Schulgebäude, greifen reflexartig zu den Smartphones. Vorbei die quälenden Stunden, in denen ihnen die scheinbar lebensnotwendigen Zugriffe auf die Plattformen ihres Gesellschaftslebens per Hausordnung verboten worden ist – jetzt sind sie zurück in ihrem virtuellen Real Life.

Studien belegen, dass es vor allem die Mädchen sind, die mit Hingabe am Fließband der sozialen Netzwerke arbeiten. Universitätsprofessor Hubert Christian Ehalt schrieb: "Die charakteristische Girl-Bewegung der Gegenwart ist leichtfingerige Hantierung ihres Mobiltelefons. Da beherrschen und verwenden sie mit schlafwandlerischer Sicherheit alle Funktionen und Apps. Jede ihrer Freundinnen erkennen sie am Klingelton und können so – wie das einst Louis XIV. mit seinen Höflingen machte – entscheiden, wem sie die Gunst eines Gesprächs erweisen."

Vernetzt

Das immer mitgeführte Telefon wurde zum Schreibgerät der Moderne. Kommuniziert wird nicht nur in einer neu entwickelten Sprache, sondern vor allem ununterbrochen.

Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak begrüßt den verstärkten Drang zur Kommunikation: "Netzwerke gab es immer schon. Gesellschaftliche Verbindungen, die sich durch gemeinsame Interessen definieren. Aber durch die Globalisierung und das Internet haben sich Begriff und Bedeutung verändert. Das Netz als Metaphorik ist mutiert. Heute kann sich jeder mit jedem vernetzen, sofort und simultan."

Ein Indiz für Demokratisierung? Wodak: "Absolut. Partizipation ist die Funktion. Es ist eine Schiene entstanden, auf der sich auch Menschen äußern können, die früher im totalitären System gefangen waren. Es geht um Grenzüberschreitungen, Informationen, Mobilisierung, wie es etwa Obama dank Social Media geglückt ist."

Auch zum Preis von Selbstdarstellung, Propaganda und Manipulation. Wodak: "Natürlich bergen diese Netzwerke Gefahren. Es existieren Illusionen, Vereinsamung oder Suchttendenzen, weil geordnete Kanäle fehlen. Aber der neu bestellte Boden ist fruchtbar. Verstaubtes wird aufgewirbelt, Kontakte leben auf, neue Textsorten für unterschiedliche Bedürfnisse entstehen, ökonomische Zwänge werden aufgeweicht und in geordneten Verhältnissen bleiben auch Qualitätsstandards aufrecht."

Dynamik

Und doch, diesen Hinweis will sich die renommierte Professorin nicht verkneifen: " Elektronik raubt Konzentration. Deshalb lernen die meisten Studenten für große Prüfungen nicht online, sondern mithilfe des guten, alten Buches."

Wohin uns die technologische Dynamik führt, ist so oder so nicht abschätzbar. Die Abhängigkeit vom Zugang zur Datenwelt verursacht Stress. Wodak: "Die Geschichte vom Zauberlehrling ist hochaktuell."

Die Geister, die wir riefen, sehen im Fall von Facebook so aus: 900 Millionen Nutzer. 300 Millionen täglich hochgeladene Fotos. 3,2 Milliarden tägliche Klicks auf "Gefällt-mir". 125 Milliarden gemeldete Freundschaften. In 70 Sprachversionen. 2011 machte das Unternehmen einen Gewinn von 1,1 Milliarden Dollar. Der Börsegang in der vergangenen Woche war der größte in der Internet-Geschichte.

Wer bei Facebook kommuniziert, füttert also ein Geschäft. Das und die Ungewissheit, was mit diesen vielen Daten passiert, ist Stoff genug für die Kritiker.

Zu denen auch Konrad Becker gehört. Der Medienforscher, Vorsitzende im Institut für neue Kulturtechnologie und Initiator von Public Netbase, kann dem Zeitgeist nichts abgewinnen. "Ich höre soziales Netzwerk, und es schrillen alle Alarmglocken. Wie sozial kann das sein? Ich orte das Gegenteil, Gefahr für die Demokratie." Becker warnt vor Asozialem: "Ich sehe einen Informationssilo, wo alles eng wird. Enge Kreise, enge Kontexte, ein eingegrenztes, intransparentes Spektrum. Trampelpfade sind in der Logik des Systems eingebaut. Mir wird das angeboten, wo ich eh schon firm bin. Die Menschen reflektieren auf Affirmation, nicht auf Negation."

Für Becker ist Facebook eine Falle. Auch, weil der Unterschied zwischen Internet und Zuckerbergs Imperium nicht mehr erkannt wird. Und am Ende geht’s nicht um die wunderbare Vision moderner Völkerverständigung, sondern um ein Milliardengeschäft. Für das sich kaum jemand interessiert. Becker: "Um zu begreifen, was mit den vielen Daten passiert, und wem die Selbstentblößung der Menschen tatsächlich nützt, müsste man sich jahrelang intensiv mit dem Mechanismus beschäftigen. Es gibt eben kein Handbuch für den raschen Gebrauch. Also machen alle mit. Früher wäre das als brandgefährliche Spionage kritisiert worden. Heute hingegen kann jeder jede Info haben. Was wir bräuchten, sind neue Strukturen, neue Rahmenbedingungen. Aber die Entwicklung scheint uns enteilt."

 

Verluderung

Die Gefahren sind bekannt. Warum werden sie ignoriert? Becker: "Soziale Medien decken ein Bedürfnis ab und scheinen alternativlos. Allein das müsste uns in einer freien Marktgesellschaft zu denken geben. Kritische Betrachtung ist anstrengend, ich sehe eine Verluderung der politischen Bildung. Bei Zuckerberg ist Privatsphäre ein überholtes Konzept, ein Gegenentwurf zum Modell von Demokratie, wo es geheime und freie Wahlen gibt. Eine Diktatur, in der gnadenlos Zensur, etwa an der Freiheit der Kunst, geübt wird."

Nicht einmal der "Freunde"-Begriff produziert Wohlwollen. "Nein, das ist eine Verarmung des Begriffs Freunde. Es geht um Quantität. Und Kinder werden schon ganz früh in den Terror des statistischen Menschenlebens gezwungen. Sie erlernen früh den Stress jener Beliebtheit, die sich in Zahlen ausdrücken lässt."

Beckers Bilanz: "Früher hatten wir Angst, dass die Maschinen zu Menschen werden. Jetzt sollten wir Angst haben, dass die Menschen zu Maschinen werden."

PRO: Öffentlichkeit durch Internet

Vor dem Netz und einer weltweiten Beteiligung gab es Öffentlichkeit nicht. Die Eliten führten spezialisierten Auseinandersetzungen und beanspruchten dafür Allgemeingültigkeit – ein Kommunikationssystem über die Köpfe der Menschen, deren Meinung nicht gehört und nur selten veröffentlicht wurde. Mit dem Internet gibt es erstmals ein leicht handhabbares Publikationsorgan, in dem alle! meinungs- und schreibberechtigt sind. Jeder kann sich jenes Rates bedienen, dem er vertraut. Die einzig legitime Ordnungsinstanz, um Texte, Infos und Bilder vorzuselektieren, sind Suchmaschinen. Sie haben nicht die blinden Flecken des Bildungskanons und diverser Ideologien. Das Netz bevormundet nicht! Für eine eigenständige Meinung ist jeder selbst verantwortlich.

CONTRA: Kommerz und Entertainment

Öffentlichkeit ist der geordnete Kosmos einer Diskussion über alle Fragen und Aufgaben des Gemeinwesens. Je differenzierter öffentlich diskutiert wird, desto qualitätsvoller sind politisches Klima und Kultur. Die neuen Medien zerstören Öffentlichkeit, weil ihr Prinzip Ordnungslosigkeit ist. Das Internet mit seiner Informationsfülle lenkt ab, zerstreut. Die genaue Lektüre eines Textes (z. B. von Susan Sonntag oder Jürgen Habermas) bringt weiter als stundenlanges Surfen im Netz. Surfen stiehlt jener differenzierten Auseinandersetzung die Zeit, die Öffentlichkeit konstituiert. Das Internet folgt kommerziellen Kriterien, Öffentlichkeit jenen des Erkenntnisgewinns. Die Ökonomisierung der Instanzen der Öffentlichkeit bedroht und zerstört sie.

Mehr zum Thema

  • Hauptartikel

  • Hintergrund

  • Kommentar

Kommentare