Stundenlang am Bildschirm: Was das für gesundheitliche Folgen hat

Stundenlang am Bildschirm: Was das für gesundheitliche Folgen hat
Welche Auswirkungen Bildschirme auf unser Leben haben und warum wir anfangen müssen, Multitasking wieder zu verlernen.

„Setz dich nicht zu nah vor den Bildschirm, du wirst noch blind.“ Würde diese Warnung aus unserer Kindheit stimmen, müssten wir wohl längst alle schwarz sehen. Immerhin verbringen wir mittlerweile tagtäglich (je nach Studie) zwischen acht und elf Stunden vor Bildschirmen – beim Arbeiten, im Auto vor dem Navi, in der Freizeit beim Shoppen, beim Film schauen, beim Lesen, beim Urlaub buchen, beim Chatten, beim Sport treiben.

Dabei ist das so genannte „Second Screening“ nicht miteinbezogen. Das ist jenes Verhalten, z. B. neben ZOOM-Meetings WhatsApp-Nachrichten am Handy zu schreiben, also zwei Bildschirme gleichzeitig zu nutzen. Das Bewusstsein jedes Einzelnen über die Tatsache, was die Technik samt deren Möglichkeiten mit uns macht, ist gering.

„Wir glauben, wir checken am Tag zwei bis drei Mal unsere E-Mails, dabei zeigt sich in Studien, dass es wesentlich häufiger ist. Rund 50 Prozent checken zumindest ein Mal pro Stunde, und fünf Prozent sogar alle fünf Minuten, also zwölf Mal pro Stunde und 100 Mal pro Arbeitstag ihre Mails“, sagt Bernd Hufnagl, Neurobiologe und Autor.

Der Bildschirm: das Fenster zur Welt

Mit einem Klick können wir sehr vieles in kurzer Zeit über Bildschirme erledigen, erfahren und erleben. So weit, so positiv. Neurobiologe Hufnagl fasst die negativen Seiten in der Welt der Bildschirmnutzung und des permanenten Multitaskings zusammen: „Das Verhalten mancher Menschen ist absolut irrsinnig geworden und sie erkennen es nicht einmal.

Viele leiden bereits unter Aufmerksamkeitsdefiziten, sind ungeduldiger, gereizter, können nicht mehr tief in eine Sache (Texte, Projekte, etc.) eintauchen. Wir unterbrechen Menschen beim Reden, können nicht mehr richtig zuhören, lesen online zwei Zeilen und haben trotzdem zu allem eine Meinung.

Da wir die Dinge oft nur überfliegen, werden wir auch leichtgläubiger. Wir senden nur noch, wir hauen die Dinge nur noch raus. Wir können kaum noch empfangen, in Resonanz gehen mit Menschen, mit Tätigkeiten. Alles wird oberflächlich, nebenbei und so schnell wie möglich erledigt. Hauptsache abgehakt, verschickt oder gesagt. Wir sind oft nur noch Getriebene.“

Schon einmal ein bildschirmfreies Wochenende ausprobiert? Zu fixen Zeiten
(z. B. täglich ab 20 Uhr) das Handy abzuschalten oder  einen Tag in der Woche oder gar das gesamte Wochenende bildschirmfrei zu verbringen, kann sehr viel Stress aus dem hektischen Alltag nehmen.  

Es könnte ein Säbelzahntiger sein

Das Telefon blinkt. Eine neue Nachricht ist eingetroffen. Unsere Aufmerksamkeit ist sofort dort. „Im Gehirn passiert nun exakt dasselbe, was bereits vor 200.000 Jahren passiert ist, wenn es rechts hinter einem im Gebüsch geraschelt hat. Das hätte ja damals ein Säbelzahntiger sein können und so mussten wir schnell reagieren. Nun haben wir aber noch immer das gleiche neuronale Netzwerk und so treiben uns Neugierde und/oder Angst noch immer an. Angst, etwas Neues online zu verpassen oder die Neugierde, was denn nun in der SMS geschrieben steht. Das Problem ist, heutzutage raschelt es nicht mehr nur ein, zwei Mal am Tag, sondern, was Studien zeigen, durchschnittlich alle elf Minuten.“

Wir werden somit alle elf Minuten in unseren Tätigkeiten unterbrochen. „Viele glauben, unser Gehirn kann Multitasking, wenn wir E-Mails lesen und gleichzeitig telefonieren. Das stimmt aber nicht, unsere Aufmerksamkeit springt dabei nur ständig hin und her, das Gehirn arbeitet also nicht parallel, sondern seriell, was unglaublich viel Energie kostet und uns langsamer und fehleranfällig macht“, so Hufnagl.

Ständige Unterbrechungen

Zu 50 Prozent würden Unterbrechungen von außen kommen – durch Pushnachrichten, Klingeltöne, der Kollege, der nach einem ruft etc. Mittlerweile unterbrechen wir uns durch das antrainierte Verhalten aber in jedem zweiten Fall selbst. Anstatt sich nur auf das ZOOM-Meeting zu konzentrieren, beantworten wir nebenbei E-Mails. Anstatt den Text online zu Ende zu lesen, kaufen wir zwischendurch ein Produkt, weil es uns eben gerade einfällt und wir sofort auf den Gedanken impulsiv reagieren.

„Unser Tag wird regelrecht zerhackt“, sagt auch Karrierecoach Jens Wolff. Er meint damit Folgendes: Früher sah ein Arbeitstag z. B. so aus: Frühstücken. Arbeiten. Heimkommen. Sport machen. Essen. Fernsehen. Heutzutage wird der Tag in immer kleinere Einheiten zerteilt. Wir können nicht mehr nur U-Bahn fahren.

Allein beim U-Bahn fahren werden diese 20 Minuten zerteilt in: „muss noch rasch drei E-Mails beantworten“ und „darf nicht vergessen, nach dem Veranstaltungsort für mein Projekt zu googeln“ und „das lustige Foto, das mir ein Kollege geschickt hat, schnell auf Facebook teilen“.

Können Sie die Dinge wirklich nacheinander machen oder ist es  ein Hin-und-her-Springen zwischen den verschiedenen Tätigkeiten? Sich selbst beobachten hilft und  mit der Erkenntnis über sein Verhalten kann man auch bewusst gegensteuern und lernen, wieder dranzubleiben. Dabei dem Impuls zur Unterbrechung nicht nachgeben und eines nach dem anderen erledigen.

Mehr Multitasking, mehr Fehler

Wolff dazu: „Nicht nur, dass wir dadurch verlernen, uns länger auf eine Sache zu konzentrieren, wir arbeiten auch pausenlos weiter. Anstatt, dass wir einmal fünf Minuten nichts tun, um zu entspannen, quetschen wir noch eine Erledigung, die per Smartphone leicht geht, hinein. Das kostet uns täglich viel Energie und wir werden immer erschöpfter.“

Hufnagl ergänzt: „Forschungen haben gezeigt, dass wir aufgrund der ständigen Unterbrechungen um 60 Prozent langsamer arbeiten und 40 Prozent mehr Fehler machen.“ Apropos fünf Minuten nichts tun. Hufnagl und sein Team sammeln seit 2004 Daten in Unternehmen. Die simple Aufgabe der Teilnehmer: Fünf Minuten ohne Handy oder Ablenkung aus dem Fenster zu schauen. Dabei wurde die Reaktion des Nervensystems gemessen.

Hundert Dinge auf der To-do-Liste und  wir sind schon wieder nur am Getriebensein. Immer wieder während des Tages  innezuhalten, durchzuatmen und zu überlegen, was man als 1., 2., und 3. machen möchte schafft Klarheit und Kontrolle. 

Erhöhte Stressreaktionen

„70 Prozent der Teilnehmer konnten während der fünf Minuten nicht entspannen. Schlimmer noch. Sie zeigten erhöhte Stressreaktionen und wurden immer unentspannter.“ Das war 2004. „Bei der letzten Messung, im Jahr 2019, waren es schon 95 Prozent.“ Man sieht deutlich, dass eine massive Verschlechterung eingetroffen ist, seit die ersten Smartphones auf den Markt gekommen sind“, so Hufnagl.

Trockene Augen, Kopfweh, Schlafstörungen, Depressionen, Anstieg der Burn-out-Fälle und stressbedingte Erkrankungen sind die Folge der permanenten Bildschirmnutzung. „Auch haltungsbedingte Schäden nehmen immer mehr zu“, beobachtet Roman Ostermann, Unfallchirurg und Orthopäde, in seiner Praxis.

Entzündungen, Deformierungen, Haltungsprobleme

Nacken- und Schulterbeschwerden, Schleimbeutelentzündungen bis hin zu Deformierungen an der Halswirbelsäule oder Bandscheibenvorfälle. „Durch das permanente nach unten auf den Bildschirm schauen, lastet auf Nacken und Rücken mehr Gewicht. „Ich empfehle eine aufrechte Haltung.

Außerdem sollte man immer mit dem Kopf gerade auf den Bildschirm schauen, höchstens die Augen blicken nach unten. Das Kinn nicht vorschieben. Generell sollte man in regelmäßigen Trainings die Nacken- und Rückenmuskulatur stärken sowie öfters vom Bildschirm Pause machen und sich bewegen.“

Warum ist ein Aufenthalt in der Natur so erholsam? Weil die Natur nichts von uns möchte. Da gibt es nichts zu kaufen, zu leisten oder zu erledigen. Die Natur tut einfach unseren Sinnen gut und wir entspannen. 

Mehr Medienkompetenz

Und was können wir sonst tun? Uli Meyer ist Leiter der Abteilung für Soziologie an der Johannes Kepler Universität in Linz mit dem Schwerpunkt Innovation und Digitalisierung. Er kritisiert vor allem eines: „Wir leben in einer Informationsgesellschaft und wissen zu wenig darüber, wie wir mit Informationen und der Technik umgehen wollen.“

Seiner Meinung nach fehlt es uns an Medienkompetenz, die man schon schrittweise im Kindergarten vermittelt bekommen sollte. Denn die Technologie alleine sei nicht das Problem, vielmehr der konkrete Umgang mit ihr. Wie viel Fremdbestimmtheit wollen wir zulassen? Was macht der tägliche Medienkonsum mit uns? Wie können und wollen wir per Gesetz Einfluss auf die Gestaltung von Algorithmen nehmen? „Wir diskutieren viel zu wenig über solche Fragen.“

Hufnagl setzt sich dafür ein, bewusst das Ruder über die Technik in die Hand zu nehmen: „Es braucht die Bereitschaft, einen Schritt auf die Seite zu machen und zu schauen, wie verhalte ich mich hier eigentlich und was macht das mit mir körperlich sowie geistig? Ein guter Anfang ist auch folgender Versuch: Legen Sie einmal für einen Tag Ihr Handy in die Schublade und schauen Sie, was das mit Ihnen macht.“

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