Hürdenlauf zur Barrierefreiheit im Handel

Bildunterschrift
Billa geht mit gutem Beispiel voran, aber kleinere Geschäfte zögern noch. Zertifizierung soll kommen.

Die Gänge zwischen den Lebensmittelregalen sind breiter, die Gemüsewaagen sind für Rollstuhlfahrer unterfahrbar, bei der Eingangstür liegen Lupen im Scheckkartenformat und an der Wursttheke Kopfhörer, über die hörbehinderte Kunden problemlos mit dem Personal kommunizieren können. Zudem können Kunden beim Eingang mittels Knopfdruck Personal zu Hilfe rufen oder sich einen Rollator leihen. Die neue Billa-Filiale in der Wiener Fuchsröhrenstraße in Simmering ist ein Vorzeigemarkt für barrierefreies Einkaufen. "Wir haben ganz bewusst Maßnahmen umgesetzt, die wir österreichweit in unseren Filialen einsetzen können und werden", sagt Robert Nagele, Mitglied des Billa-Vorstandes.

Hürdenlauf zur Barrierefreiheit im Handel
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Seit Anfang des Jahres gilt das Behindertengleichstellungsgesetz – seit Jahren bereiten sich die Handelsketten darauf vor. Von den landesweit 1050 Billa-Filialen sind nur 51 noch nicht behindertengerecht umgebaut. Dabei handelt es sich meist um städtische Standorte, die sich mitunter auch in denkmalgeschützten Häusern befinden. Ein Umbau scheitert oft an den nötigen Genehmigungen – etwa für den Bau einer Rampe, weil sie in den öffentlichen Raum reicht. Die Kosten für den Bau einer behindertengerechten Filiale auf die grüne Wiese halten sich bei Lebensmittelhändler in Grenzen. Sie werden mit etwa drei Prozent der Bausumme beziffert.

Wirtschaftliches Thema

"In Österreich haben 15 Prozent der Bevölkerung unterschiedliche Arten von Behinderungen", sagt Rewe-Chef Frank Hensel (Billa, Merkur, Bipa, Penny, Adeg). Es gibt allein 50.000 Rollstuhlfahrer, für die der Einkauf zum Problem wird. "Das ist auch wirtschaftlich ein Thema für uns", fügt der Rewe-Chef hinzu. Vieles wird in der neuen Filiale ausprobiert. Etwa, ob die Krückenhalter an den Einkaufswägen von Kunden genutzt werden.

Der Österreichische Zivil-Invalidenverband (ÖZIV) sieht im heimischen Einzelhandel generell großen Aufholbedarf. "Die Barrierefreiheit ist bei großen Lebensmittelhändlern noch vergleichsweise am besten, weil sie viele Kunden haben", sagt ÖZIV-Experte Peter Noflatscher, in kleineren Geschäften wie etwa Modeboutiquen sehe die Lage anders aus. "Ich habe dort noch nie eine barrierefreie Umkleidekabine gesehen", nennt er ein Beispiel. Oftmals seien es alteingesessene Betriebe in sehr alten Geschäftslokalen, wo "seit vielen Jahren nichts passiert".

Ein Feldtest vor zwei Jahren ergab: Durchwegs stufenlos zugänglich sind nur große Einkaufszentren. Bei den getesteten (Wiener) Einkaufsstraßen können nur die attraktivsten punkten, während in Seitenstraßen nur noch jeder zehnte Shop stufenlos erreichbar ist. Im Lebensmittelhandel sind etwa 50 Prozent der Geschäfte barrierefrei zugänglich, auch jede zweite Bank und Apotheke erfüllt gewisse Standards. Am schlechtesten schnitten Modeboutiquen und die Gastronomie ab. Seit Auslaufen der Übergangsbestimmungen zum Gleichstellungsgesetz Anfang 2016 habe sich diesbezüglich noch nicht sehr viel verbessert, analysiert Noflatscher.

Strafen

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Behindertenvertreter sehen auch noch Verbesserungsbedarf beim Gleichstellungsgesetz. Dies sei in punkto Barrierefreiheit zu unkonkret. "Anders als in anderen Ländern wird in Österreich Barrierefreiheit nicht explizit eingefordert", argumentiert Noflatscher. So haben Betroffene, die bei Verstößen klagen, nur einen Anspruch auf einen kleinen Schadenersatz, nicht aber darauf, dass die bestehenden Hürden auch tatsächlich beseitigt werden. Vor einer Klage ist ein Schlichtungsgespräch verpflichtend. Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass der Betrieb keine finanziell "unverhältnismäßige Belastung" auf sich nehmen muss. In den einzelnen Bauordnungen der Bundesländer gibt es diesbezüglich unterschiedliche Regelungen. Manchmal reichen aber auch schon kleinere Maßnahmen aus, um Barrieren abzubauen.

Zertifizierung

Um das Engagement eines Unternehmens bezüglich Barrierefreiheit auch nach außen sichtbar zu machen, soll es bis Ende des Jahres eine eigene Zertifizierung geben. Der von Behindertenorganisationen ausgearbeitete Kriterienkatalog für den Zertifizierungsprozess umfasst dabei nicht nur die Infrastruktur, sondern alle Unternehmensbereiche wie Firmenphilosophie und Strategie, Management, Mitarbeiter, Kommunikation und auch die rechtlichen Aspekte.

"Die Zertifizierung zeichnet nicht nur vorbildliche Unternehmen aus, sondern nimmt sie auch in die Pflicht, sich laufend mit diesem Thema zu beschäftigten", sagt Noflatscher.

Was ist barrierefrei?

Gleichstellungsgesetz
Seit 1. 1. 2016 gilt das Bundes- Behindertengleichstellungsgesetz auch für die Privatwirtschaft in vollem Umfang. Soweit zumutbar, müssen alle Waren, Dienstleistungen und Informationen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, barrierefrei angeboten werden. Es gibt jedoch Ausnahmen, etwa für kleine Geschäfte.

Barrieren
Bauliche Barrieren sind z. B. Stufen, zu schmale Türstöcke oder zu kleine Sanitär-Anlagen (Bad/WC). Es gibt aber auch Seh- bzw. Orientierungsbarrieren.

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