Freihandel: Auch Uncle Sam hat Zweifel

Europa.
Sie tönen leiser als ihre europäischen Kollegen. Aber auch in den USA erheben sich kritische Stimmen gegen das transatlantische Freihandelsabkommen (kurz: TTIP).
Die Europäer befürchten, dass ihnen Chlorhuhn, Hormonfleisch und Genmais serviert werden. Was viel weniger Gehör findet: "Auch in den USA gibt es Bedenken", betont Debbie Barker vom Zentrum für Lebensmittelsicherheit (CFS), einer NGO mit Hauptsitz in Washington. "Die Verhandlungen dienen nur einem Zweck, nämlich dem Aufweichen der Standards auf beiden Seiten", sagt die Direktorin für internationale Angelegenheiten im Gespräch mit dem KURIER. Sie befürchtet Verschlechterungen in gewissen Lebensmittelbereichen oder ein Auslöschen von Verbraucherschutz-Initiativen.
- Gentechnik In den USA gibt es eine breite Front, die die Kennzeichnung von Lebensmitteln mit gentechnisch veränderten Organismen (GVO) fordert. Seit 2013 gibt es in Connecticut und Maine ein entsprechendes Gesetz, Vermont folgt 2016. 26 weitere Staaten haben mehr als 54 Gesetzesinitiativen eingereicht – 35 davon heuer. Setzt sich die US-Handelskammer mit ihrem Begehr an die EU nach einer Lockerung der Kennzeichnungspflicht durch, würden diese Bestrebungen zunichte gemacht.
- Milch Um Milch an US-Kunden verkaufen zu dürfen, muss diese der Güteklasse A entsprechen. Milch nach europäischem Standard ist dies nicht automatisch, was dem Europäischen Milch-Handelsverband Eucolait gar nicht passt. Er möchte die komplizierten Zulassungsverfahren fallen sehen.Rohmilch Die US-Lebensmittelaufsicht FDA stuft Rohmilch und Rohmilchkäse als gesundheitsschädigend ein. "Wir verfolgen eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Listerien oder E-Coli-Bakterien", erklärt Barker. In mehr als der Hälfte der Bundesstaaten ist der Handel zwar zugelassen, aber unter großen Einschränkungen. So muss Rohmilchkäse mindestens 60 Tage gereift sein, bevor er verkauft werden darf. Der Handel über Bundesgrenzen hinweg ist verboten, was mitunter zu einem florierenden Schwarzmarkt in den USA geführt hat. Mit TTIP würden Beschränkungen fallen.
- Zimt In den USA sind, anders als in der EU, Lebensmittel mit dem Aromastoff Cumarin seit 1954 verboten. Tierversuche haben gezeigt, dass Cumarin lebertoxisch und krebserregend ist. Cumarin kommt als Duftstoff in Kosmetika, Parfums und in Zimtprodukten zum Einsatz; Cassia-Zimt (Gewürzrinde) etwa enthält erhebliche Mengen. Jüngst wiesen Experten auf zu viel Cumarin in dänischen Zimtschnecken hin – doch der Grenzwert (50 mg/kg) wurde eingehalten.
- Bio ist nicht bio Mit 1. 6. 2012 wurde der Handel mit Bio-Produkten zwischen der EU und den USA erleichtert. Öko-Siegel werden gegenseitig anerkannt. Aber: In Europa dürfen Bio-Rinder im Krankheitsfall mit Antibiotika behandelt werden – in den USA nicht.
- "Buy local" Um Jobs in der Landwirtschaft zu sichern und US-Bauern zur Erzeugung hochwertiger Produkte anzuhalten, die an Schulen oder Krankenhäuser geliefert werden, wurden regionale Förderprogramme "buy local" ins Leben gerufen. Die Initiativen sind angelehnt an den "Buy-American-Act", der seit 2009 der US-Industrie zum Aufschwung verhelfen soll. Demnach müssen in manchen Staaten US-Firmen bei öffentlichen Aufträgen bevorzugt werden. Der EU sind diese protektionistischen Regeln in 13 Staaten und 23 Städten ein Dorn im Auge.
- Rinderwahn Nach mehr als 16 Jahren ist das aufgrund von BSE eingeführte Importverbot für Rindfleisch aus Europa in den USA zwar gefallen, dennoch gibt es Bedenken, dass man sich mit Futtermitteln, in denen tierische Nebenerzeugnisse stecken, die Seuche ins Land holen könnte.
Das ist der Standard: USA versus EU
Die Ansätze beim Lebensmittel- und Verbraucherschutz sind grundverschieden. In der
EU gilt das Vorsorgeprinzip: Was für Konsumenten ein Risiko birgt und nicht nachweislich ungefährlich ist, wird verboten. Anders in den
USA: Dort wird zugelassen, was sich nicht in Tests als schädlich erwiesen hat. Deshalb zählt eher die Sicherheit des Endprodukts (siehe
Chlorhuhn), während die
EU die ganze Produktionskette im Fokus hat. In den
USA wird das oft als unwissenschaftlich abgetan.
„Die US-Nahrungsproduktion ist viel stärker industrialisiert als in
Europa, die Kosten stehen im Vordergrund“, sagt US-Expertin
Debbie Barker. In
Europa genieße Essen kulturell einen höheren Stellenwert, deshalb werde
TTIP auch viel emotionaler diskutiert.
Was lässt sich in neun Minuten erledigen? Eier hart kochen zum Beispiel. Aber eine Stellungnahme zum Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU abgeben? „Das ist natürlich offenkundig viel zu wenig Zeit“, sagt Melinda St. Louis von der US-Bürgerorganisation Public Citizen zum KURIER.
St. Louis war am 16. Juli unter den 400 Interessensvertretern bei der Anhörung in Brüssel. Es war – nach März – die zweite Gelegenheit für die breite Öffentlichkeit, Bedenken zu äußern. Für dreieinhalb Stunden unterbrachen die Verhandlungsteams der US-Delegation und der EU-Kommission ihre Gespräche, um zuhören zu können. Viel Raum zur Darstellung erhielten die Interessensgruppen nicht: Die 70 Präsentationen fanden zeitgleich in vier Sälen statt, neun Minuten lang durfte jeder sprechen – vom Industrieverband über den Konsumentenschützer bis zum Gewerkschafter.
Wie ein Einweg-Spiegel

Vier Monate lief die EU-Konsultation zu dem Thema, 150.000 Eingaben ließen die Server kollabieren. Daran sei Public Citizen schuldlos, versichert St. Louis: „Wir haben nur eine Stellungnahme eingebracht, aber mit 25.000 Unterschriften.“ Sie ist überzeugt, dass es für ausgefeilte Rechtssysteme wie jenes der USA und EU keine Sonderklagsrechte braucht. Schon gar keine, die ausländische Investoren bevorzugen.
Und was ist mit dem Vorwurf der Geheimverhandlungen? Die EU-Kommission veröffentlicht doch ständig Papiere über den Gesprächsverlauf. „Unsere Türen sind offen“, betonen die Chefverhandler Dan Mullaney (USA) und Ignacio Garcia-Bercero (EU). „Ja, das stimmt auch“, sagt St. Louis. „Aber es funktioniert wie ein Einweg-Spiegel: Sie hören sich an, was wir sagen. Aber wir wissen nicht, was sie verhandeln, solange die konkreten Texte unter Verschluss sind.“
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