Experten kritisieren EU-Wirtschaftspolitik

Ein älterer Mann mit Bart gestikuliert mit dem Finger.
Wifo-Chef Aiginger, Ex-EU-Kommissar Fischler und Wirtschaftsforscher Fitoussi warnen vor falschen Prioritäten.

Wifo-Chef Karl Aiginger übt in einem offenen Brief, den er gemeinsam mit dem früheren Agrarkommissar Franz Fischler und dem Wirtschaftsforscher Jean-Paul Fitoussi an die EU-Kommission verfasst hat, scharfe Kritik an den wirtschaftspolitischen Prioritäten der Kommission. Ohne Kursänderung würden die wichtigsten Ziele der Strategie "Europa 2020" verfehlt, heißt es in dem Brief.

Ein älterer Mann mit Brille spricht vor einem Mikrofon.
APA16146390 - 19122013 - WIEN - ÖSTERREICH: Wifo-Chef Karl Aiginger am Donnerstag, 19. Dezember 2013, anl. der PK des Wirtschaftsforschungsinstitutes (Wifo) und des Institutes für Höhere Studien (IHS) zum Thema "Konjunkturprognose 2014 und 2015 (Winterprognose)" in Wien. APA-FOTO: HERBERT NEUBAUER
Das Ziel, dieBeschäftigungsquotebis 2020 auf 75 Prozent zu heben, werde verfehlt, kritisierte Aiginger. "Heute liegt die Beschäftigungsquote um fast 7 Prozentpunkte unter dem Zielwert. Die Zahl der Beschäftigten müsste daher um rund 16 Mio. gesteigert werden", heißt es in dem am Mittwoch veröffentlichten Schreiben.

Die Forschungsausgaben sollten laut Strategie auf 3 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen, heute würden sie 2,2 Prozent des BIP betragen, stellte das Wifo fest. Auch das Ziel, die Zahl der Armutsgefährdeten in der EU um 20 Millionen zu verringern, scheine "schwierig zu erreichen". Nach einem Rückgang auf 114 Millionen Personen bis 2009 sei die Zahl der Armutsgefährdeten wieder auf 124 Millionen gestiegen, um 28 Millionen über der selbstgesetzten Grenze.

Dem Ziel einer Steigerung der Energieeffizienz komme die EU "nur auf den ersten Blick" näher. "Der Rückgang der Industriequote am BIP und die Stilllegung von Betrieben mit außerordentlichen hohen Emissionen in Osteuropa haben die Effizienz erhöht."

Maßnahmen

Die Verfasser des Briefes fordern den Europäischen Rat, der am 20. und 21. März zusammentritt, auf, den Kurs noch zu ändern. Insbesondere müssten Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit rasch umgesetzt und die Mobilität in der EU durch spezielle Förderprogramme erhöht werden. Steuerhinterziehung und -umgehung wären entschiedener zu bekämpfen, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie für Bildung müssten deutlich ausgeweitet werden, statt "sie nur vor Budgetkürzungen zu schützen, wie der gegenwärtige Bericht vorschlägt", lauten die wichtigsten Forderungen.

Saubere Luft contra Arbeitsplätze. Mit diese Formel lässt sich zusammenfassen, worüber am Freitag gestritten und gerungen wird. Dann kommen in Brüssel die EU-Staats- und Regierungschefs zusammen, um unter anderem über die künftige Klimapolitik zu beraten. Grundlage der Debatte sind die neuen Klimaziele, die die EU-Kommission Anfang des Jahres vorgelegt hat: Eine Reduktion der CO2-Emissionen um 40 Prozent bis 2030, gleichzeitig soll ein Anteil von 27 Prozent erneuerbarer Energien erreicht werden.

"Mit den Klima-Zielen der Kommission würde das Wachstum sofort wieder abgewürgt"

Geht es nach der Wirtschaftskammer, dann sollten die Staatenlenker den Vorschlägen der Brüsseler Behörde eine Absage erteilen: "Die Wirtschaft keimt gerade wieder etwas auf. Mit diesen Zielen würde das Wachstum sofort wieder abgewürgt", sagt Franz Brudl, Fachreferent im Brüsseler WKO-Büro. Die Folgen, die er skizziert, sind drastisch: Zukünftige Investitionen würden ausbleiben; Firmen, die derzeit in Europa ansässig sind, würden abwandern; Tausende Jobs würden verloren gehen. "Dem Klima wäre damit auch nicht geholfen", sagt Brudl, "denn wo würden die Betriebe hingehen? Dort, wo die Regeln viel weniger streng sind als bei uns" – wo also noch mehr CO2 ausgestoßen wird.

Technologie-Frage

Brudl sagt, es sei unklar, mit welcher Technologie die Reduktion um 40 Prozent überhaupt erreicht werden sollte. Denn sowohl Atomenergie als auch die CO2-Speicherung (CCS) kämen für Österreich nicht infrage. Der Klimaschutz könne ohnehin nur mit einem globalen Abkommen verwirklicht werden, sagt Brudl: Schließlich sei Europa nur noch für zehn Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich.

Die Energieexpertin von Greenpeace, Julia Kerschbaumsteiner, kann die Befürchtung der WKO nicht nachvollziehen. "Der CO2-Ausstoß wird ohne zusätzliche Aktivitäten bis 2030 um 32 Prozent abnehmen." Denn die bereits gesetzten Maßnahmen wie ein geringerer CO2-Ausstoß der Autos oder Aktionen zur Verbesserung der Energieeffizienz würden auch weiterhin wirken. Bei der fehlenden Reduktion auf die angepeilten 40 Prozent könne man daher "keineswegs von überambitionierten Zielen sprechen".

Die Sozialpartner und die Industriellenvereinigung sehen das etwas anders. Sie halten nichts davon, dass die EU den Vorreiter beim Klimaschutz gibt.

Brief an Faymann

In einem Brief an Kanzler Werner Faymann wird verlangt, dass die EU ihr Reduktionsziel von der Übernahme vergleichbarer Zielvorgaben "in anderen relevanten Wirtschaftsräumen" abhängig macht. Befürchtet wird eine "Wettbewerbsverzerrung gegenüber Drittstaaten". Man sollte die Auswirkungen auf die einzelnen Wirtschaftsbereiche genau prüfen, fordert Christoph Streissler, Umweltexperte der Arbeiterkammer.

voestalpine-Chef Wolfgang Eder hofft, dass der EU-Gipfel die geplanten Beschlüsse zu den CO2-Zielen vertagt: "Die Entscheidung ist nicht aufbereitet, das sollte in aller Ruhe die neue Kommission machen." Die derzeitigen Klima-Ziele würden die voestalpine, die am Dienstag ein 900 Millionen Euro schweres Sparpaket präsentierte (siehe unten), teuer zu stehen kommen.

Teure Zertifikate

Bereits zwischen 2008 und 2012 habe die voestalpine in Summe CO2-Zertifikate um 45 Millionen Euro kaufen müssen. Bis 2020 müsste der Konzern bis zu 105 Millionen pro Jahr dafür ausgeben. Ab dem Jahr 2021 müsste der Stahlhersteller bereits bis zu 230 Millionen Euro dafür aufwenden.

Auch Wilhelm Hörmanseder, Chef des Karton-Herstellers Mayr-Melnhof, warnt vor weiteren Belastungen. Der CO2-Footprint des Konzerns sei zwar derzeit so attraktiv, dass bis 2020 keine zusätzlichen Kosten anfallen. Eine CO2-Steuer, die kolportiert wird, würde aber das Produzieren in Europa gefährden.

Die Klage, die heimische Industrie sei bei den Strompreisen stark benachteiligt, ist laut einer Studie der Unternehmensberater PwC deutlich übertrieben. Denn die Industrie habe bei den Tarifen "von der deutschen Energiewende profitiert", erläutert PwC-Energieexperte Michael Sponring ein zentrales Ergebnis der im Auftrag der Branchenvertretung Oesterreichs Energie durchgeführten Untersuchung.

Der in Deutschland ins Netz eingespeiste Ökostrom kann billig weiterverkauft werden. Denn er ist durch die hohe Ökostromabgabe bereits bezahlt. Von den gesunkenen Großhandelspreisen profitiert auch die heimische Industrie.

Vergleich mit USA

Der Industriestrompreis ist laut Sponring in Österreich etwa so hoch wie im strukturstarken und mit Europa vergleichbaren Nordosten der USA. In Deutschland zahlen jene Unternehmen, die nicht von der Ökostromabgabe befreit sind, einen deutlich höheren Tarif.

Beim Preisvergleich mit anderen europäischen Ländern sind die Industrie-Strompreise in Österreich laut Oesterreichs Energie unter dem Schnitt der EU-27. Die höchsten Tarife gibt es in Italien und Deutschland, die niedrigsten Preise in Schweden und in Frankreich.

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