Vertreibung im Zeichen der Ringe

Ein kleines Haus steht vor modernen Hochhäusern, die sich im Bau befinden.
Für die Olympischen Spiele muss in Rio die Favela Vila Autodromo Nobelhochhäusern weichen.

Fünf Straßenhunde schauen neugierig um die Ecke, schnüffeln und kläffen, als sich der Bagger an diesem sonnigen Vormittag seinen Weg durch den rotbraunen Morast bahnt. In wenigen Stunden wird er wieder ein Haus gefressen haben. Eines von vielen in den vergangenen Jahren. Jane, 59, steht auf ihrer Terrasse und umsorgt liebevoll die Blumen. Sehr bald haben sie und die anderen in der Vila Autodromo den vierjährigen Kampf gegen Olympia 2016 in Rio de Janeiro verloren. Ihr Armenviertel musste den olympischen Sportstätten in Barra da Tijuca weichen.

Barra und Vila Autodromo – das sind Gegensätze, wie sie größer kaum sein könnten. Auf der einen Seite das gigantische, hochmoderne Shoppingcenter Metropolitano und die sündhaft teuren Wohntürme – ausgestattet mit Pool, Fitnessraum und natürlich abgeschirmt von Sicherheitspersonal. Auf der anderen Seite die Baracken aus roten Ziegeln, die die morastigen Straßen säumen. Vila Autodromo, das einstige Fischerdorf an der Lagune, passt nicht mehr zu Barra – das wissen sie hier seit 2011. Damals verkündete die Stadt, dass der Olympic Park, quasi das Epizentrum der olympischen Wettkämpfe, direkt an die Favela angrenzen wird und diese deshalb weichen muss. Aller Kampf dagegen war zwecklos. Vila Autodromo wird bis Olympia 2016 planiert sein.

Tausende Umsiedler

Auf einer Hauswand ist ein Graffiti mit der Aufschrift „PRES MENTE“ zu sehen.
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"Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich ein wenig aufgeräumt", sagt Jane und bittet Sozialarbeiterin Amanda vom Projeto Legal in ihr bescheidenes Heim. Projeto Legal kümmert sich vor allem um Kinder, die unter den Auswirkungen der sportlichen Großereignisse in Rio, der Fußball-WM 2014 und Olympia 2016, leiden. Amnesty International schätzt, dass allein wegen dieser beiden Veranstaltungen 19.000 arme Familien umgesiedelt wurden. Jane ist gerade dabei, Gestecke aus Kunstblumen zusammenzusetzen, damit verdient sie sich zusätzlich zur Sozialhilfe Bolsa Familia noch ein paar Reais extra. Seit 13 Jahren lebt die Mutter dreier Kinder in der Vila Autodromo. Die Vila war nie eine heruntergekommene und gefährliche Favela wie zum Beispiel Maré in der Nähe des Internationalen Flughafens, in die man besser keinen Fuß setzen sollte. Vielmehr war Vila Autodromo eine Favela mit Upgrade, mit gemauerten Häuschen statt Bretterbuden.

"Es ist reiner Terror, was die Stadt hier mit uns gemacht hat. Wir haben nach dem Gesetz ein Recht, hier zu leben, und wir haben dem Bürgermeister in Zusammenarbeit mit Studenten auch Alternativvorschläge unterbreitet, wie man unsere Favela hätte erhalten können", schimpft Jane und schafft etwas Ordnung auf dem Küchentisch. Auf Bürgermeister Eduardo Paes ist in Vila Autodromo niemand gut zu sprechen. "Paes lügt", hat jemand an eine noch verbliebene Hauswand gesprüht und ihm eine Pinocchio-Nase verpasst.

Lange Nase

Ein Bagger reißt ein beschmiertes Gebäude ab.
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Doch der Bürgermeister wehrt sich und sagt, dass Amnestys Zahlen falsch sind. "Das ist Quatsch. Die Zahlen stimmen nicht. Wegen der WM musste in Rio überhaupt keine Familie umziehen. Das Maracanã-Stadion steht schließlich seit Ewigkeiten an seinem Platz. Und bezüglich Olympia gab es die Probleme in der Vila Autodromo. Aber wir haben eine gute Lösung gefunden und Ersatzwohnungen in der Nähe beschafft. Die meisten sind sehr froh und bereits umgezogen", sagt Paes. Nach Informationen des KURIER wurden jeder Familie in der Favela von der Stadt eine vorübergehende Ersatzwohnung sowie 70.000 Euro Entschädi- gung geboten. Das einzige Problem: Für 70.000 Euro kann man in einem Stadtteil, in dem die Schönen und Reichen von Rio zu Hause sind, nicht einmal einen Keller kaufen – geschweige denn ein Haus. "Für die armen Familien heißt das, sie werden in die Pampa geschickt und samt Kindern aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen. Das läuft immer so", weiß Sozialarbeiterin Amanda. Goodbye, Rio.

Draußen reißt der Bagger wieder eine Wand mit einem Protestslogan darauf ein. Die Vila Autodromo gleicht mittlerweile eher einer Bauschuttdeponie als einer Wohnsiedlung. Arbeiter des benachbarten Olympic Parks stärken sich in einer kleine Lanchonete bei frittiertem Fisch, günstiger als hier bekommen sie den weit und breit im Nobelviertel nicht. Sowieso hat Barra eigentlich kaum etwas mit dem eigentlichen Rio zu tun. Die Reichen sperren sich in ihren Luxushäusern weg: Ein Auto unter einem Land Rover ist nicht wirklich schick in dieser verwöhnten Gesellschaft.

Unbeliebte Nachbarn

Zwei Frauen unterhalten sich über einen Zaun hinweg vor einem Haus.
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Vermessungsingenieure durchstreifen die Favela, Kanalrohre liegen bereit. Es sollen eine Straße und ein Parkplatz gebaut werden. Schließlich sind die neuen Nobelhochhäuser schon fertig, und eine Favela hat niemand gern vor der Tür. Nach der Nutzung für Olympia werden sie von Immobiliengesellschaften teuer vermarktet. Bürgermeister Paes nennt dies dann gern "nachhaltig".Für Jane und ihre Familie ist nun klar: Nächste Woche muss ihr Haus geräumt werden, dann rücken auch bei ihr die Bulldozer an. Sie zählt zu den letzten der ehemals 1500 Bewohner in Vila Autodromo. "Es geht ja gar nicht nur ums Geld. Wir haben uns hier all die Jahre sehr wohl gefühlt und ein eigenes Haus aufgebaut. Das werden wir im Großraum Rio auf jeden Fall nicht mehr bekommen", sagt die resolute Frau, die alle Proteste gegen Olympia mitgemacht hat.

Sie hofft, dass es vor den Spielen weitere Demonstrationen geben wird. Ihre Existenz im noblen Barra da Tijuca haben die Leute von Vila Autodromo aber verloren – wohin der Weg sie führt, wissen die meisten nicht. Ihr Viertel war vielen einflussreichen Menschen in Rio schon lange ein Dorn im Auge.

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