Großbritannien feiert "Die Übermenschlichen"

Jeden Abend, wenn im Londoner Olympiastadion die Wettkämpfe der weltbesten Behindertensportler schon beendet sind, geht es beim TV-Sender Channel 4 erst richtig zur Sache.

Dann kommt Adam Hills zum Zug, ein Comedian aus Australien. Schon der Titel seiner Sendung ist Programm: "The Last Leg" - ein Wortspiel, das sowohl mit "die letzte Etappe" als auch "das letzte Bein" übersetzt werden kann.

Hills - selbst mit nur einem Unterschenkel zur Welt gekommen - lotet jeden Abend aus, wie weit man bei Späßen mit und über Behinderte gehen kann - mit Humor und Respekt, nie die Grenze überschreitend. Hills' Sendung ist ein Beispiel für den unverkrampft-fröhlichen aber auch respektvollen Umgang der Briten mit den Paralympics und dem Thema Behinderung. "The Superhumans" - "Die Übermenschlichen", ist das gängige Synonym für die Athleten.

Die Stadien sind voll, die britischen Goldmedaillen-Gewinner werden zu Helden auf Zeit. Wenn die kleinwüchsige Ellie Simmonds antritt, steht die ausverkaufte Schwimmhalle Kopf. 80.000 sind im Olympiastadion aus dem Häuschen, wenn "Weir-Wolfe" David Weir in seinem Rollstuhl die Konkurrenz in Grund und Boden fährt. Die Bilder der Athleten prangen auf den Titelseiten der Zeitungen, die Fernsehsender überschlagen sich mit rührenden Heldengeschichten: "Taschentücher holen!" rät der Kommentator den Zuschauern, vor dem Werbeblock, dem ein Interview mit einem der Gladiatoren folgt.

"Die britische Öffentlichkeit hat die Paralympics einfach in ihr Herz geschlossen", sagt die Bürgermeisterin des paralympischen Dorfes, Eva Löffler. Ihr Vater, der aus Hitler-Deutschland geflohene jüdische Arzt Ludwig Guttmann, hatte die ersten Spiele in Stoke Mandeville 1948 aus der Not heraus geboren. Der Mediziner musste Kriegsversehrte zur Bewegung antreiben, um sie vor dem sicheren Tod zu bewahren. "Damals war es Rehabilitation", sagt Eva Löffler. "Jetzt hat es sich geändert. Das sind richtige Athleten."

Und genauso werden sie von den Briten behandelt. Wie zuvor die erfolgreichen Olympioniken des Teams GB tingeln die Behinderten von Interview zu Interview, wie ihre nicht-behinderten Pendants bekommen die Sieger eigene Briefmarken von der Royal Mail, in Heimatgemeinden goldene Briefkästen und einen große Bahnhof. Für die Sportler ist es oft die Erfahrung des Lebens: Nie zuvor und vermutlich auch nie wieder in der Zukunft standen und stehen sie dermaßen im Rampenlicht.

Der übertragende Sender Channel 4 hat wegen des massiven Interesses seine Übertragungszeit auf sensationelle 16 Stunden pro Tag aufgestockt. Die Niederlage von Oscar Pistorius über 200 Meter sahen weit über vier Millionen Briten, die Eröffnungsfeier schalteten sogar elf Millionen ein - kalkuliert war ein Maximum von 2,5 Millionen. Channel 4 erzielt mit dem Behindertensport die besten Quoten seit Jahren und schlägt an manchen Abenden sogar die auf der Insel dominierende BBC.

Auch die zunächst zurückhaltende Werbewirtschaft zieht mit. Wurde das Interesse der Werbekunden anfangs noch als "lauwarm" bezeichnet, herrscht bei Channel 4 zur Mitte der Spiele geradezu Begeisterung: "Die Werbekunden wollen jetzt taktisch die besten Plätze um die Schlüssel-Ereignisse der Spiele besetzen, und wissen genau, wer die großen Stars sind", sagte Channel-4-Verkaufschef Jonathan Allan, dem Fachmagazin "Marketing Week".

Auch Adam Hills und seine Show schwimmen auf der Erfolgswelle mit. Bis zu 1,6 Millionen Briten schalten ein, wenn der Australier am späten Abend seine Witze reißt. Ein Scherzbold hat jetzt eine Strickpuppe von dem einbeinigen Moderator gebastelt und auf dem Internet-Marktplatz Ebay zur Versteigerung angeboten. Das Höchstgebot stand am Mittwoch bei 35.000 Pfund (rund 44.000 Euro).

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