Mohn-Obsession: Die Briten im Poppy-Fieber
Ein britischer Brauch schlägt derzeit hohe Wellen. Im Vorfeld des 11. November - in den Ländern des Commonwealth als "Remembrance Day" gefeiert - wird dem Gedenken an gefallene, britische Soldaten traditionellerweise ein Zeichen gesetzt. In England ist die Heldenverehrung Kult und treibt seit nunmehr über 90 Jahren seltsam anmutende Blüten: stilisierte
Mohnblumen, zumeist am Revers aufgepflanzt, sollen an die Toten erinnern.
Die Tage, an denen der blumige Brauch unbemerkt am Rest der Welt vorüberging, scheinen endgültig gezählt. Dafür verantwortlich zeichnet die ausufernde Debatte über die Teamdressen der englischen Nationalelf, die laut FIFA-Statuten nicht mit Mohnblumen geschmückt werden dürfen. Am Samstag treten die "Three Lions" in einem Testspiel gegen Spanien an. Ursprünglich hätte das Spiel am Freitag, dem Remembrance Day stattfinden sollen, wurde aber auf Anfrage des FC Barcelona verschoben, der am Mittwoch noch im spanischen Cup spielte.
Empörte Reaktionen auf den FIFA-Entscheid
Der Antrag der Briten, die Dressen der Teamspieler mit sogenannten "Poppies" zu versehen (eine Mohnblume pro Leibchen, im linken Brustbereich angebracht), wurde von der
FIFA mit einem Verweis auf das Regulativ beantwortet, das Spielerausrüstung mit politischen oder religiösen Symbolen verbietet.
Weite Teile der britischen Öffentlichkeit können die Entscheidung der FIFA nicht nachvollziehen. Die Entrüstung reicht bis in die höchsten Kreise. Während Premierminister David Cameron nannte das Verbot "empörend"; Prinz William verfasste einen Brief an den Fußball-Weltverband. Die Proteste haben zumindest teilweise gefruchtet: Eingestickt auf dem Trikot dürfen Wayne Rooney und seine Kollegen die Mohnblume zwar nicht tragen, wohl aber auf einem Trauerflor.
Von Flanders Fields zum "Poppy-Faschismus"
Das Poppy als Symbol der Erinnerung geht auf das Gedicht "In Flanders Fields" (siehe Link) aus dem Jahr 1915 zurück. Darin beschreibt der kanadische Sanitätsoffizier John McCrae die Trauer über den Tod eines Kameraden im
Ersten Weltkrieg. In dem Gedicht thematisiert McCrae den in Flandern blühenden Klatschmohn.
Der
Brauch, die stilisierte Mohnblume als Zeichen der Erinnerung an gefallene Soldaten zu tragen, wurde noch in den Kriegsjahren in Nordamerika begründet. Heute ist er praktisch ausschließlich auf Großbritannien und die vom Königreich beeinflussten Länder des Commonwealth beschränkt. Im Mutterland wird er in den Augen mancher inzwischen fast zur Obsession und stößt teilweise auf heftige Kritik. So sprach etwa der Fernsehmoderator Jon Snow mehrfach öffentlich vom "Poppy-Faschismus".und bezeichnete den Zwang, die Mohnblumen zu tragen als Einschränkung der journalistischen Neutralität.
Das Geld hinter dem Mohn
Ursprünglich hatten die Poppies einen rein humanitären Verwendungszweck. Die im Einsatz für die Krone oft verwundeten, verkrüppelten oder seelisch verstümmelten britischen Soldaten merkten nach ihrer Heimkehr, dass sie keineswegs nur als Helden empfangen wurden. Stattdessen mussten sie ohne ausreichendes soziales Netz zusehen, wie sie über die Runden kamen. 1921 wurde deshalb die "British Legion" als Hilfsorganisation für britische Kriegsversehrte und ihre Angehörigen gegründet.
Um Geld für die Opfer einzutreiben, verkauften Freiwillige der Legion, meist ehemalige Soldaten, die Poppies - mit wachsendem Erfolg. Viele Prominente stellten sich hinter die Aktion. Geld zu geben, wurde zur Ehrensache. Im vergangenen Jahr nahm die British Legion mit den in einer eigenen Werkstatt handgefertigten Mohnblumen 36 Millionen Pfund (42,2 Mio. Euro) ein. "In diesem Jahr erwarten wir 40 Millionen Pfund", sagt
Leigh Bradshaw, Sprecherin der British Legion. Der Staat profitiert doppelt von dem Hype um die Poppies. Zum einen spart er Geld - beispielsweise für Rehazentren, die mit den Mohnblumen-Erlösen bestückt werden - zum anderen versinnbildlichen die landesweit zur Schau getragenen Blumen ein gesellschaftliches Zusammenrücken und fungieren somit als identitätstiftender (und politisch ausbeutbarer) Marker einer umfassenden "Britishness".
Und wer sich vom Fieber um die roten Poppies nicht anstecken lassen will, hat immerhin noch die Möglichkeit, auf andersfarbige Mohnblumen auszuweichen. Etwa das Weiß der Friedensinitiative Peace Pledge Union. Oder lila, für getötete Tiere.
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