Brasiliens neues Bewusstsein

Eine medizinische Fachkraft behandelt eine Person, die in eine brasilianische Flagge gehüllt ist, während Demonstranten gegen die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2014 protestieren.
Vor der Fußball-WM haben die Brasilianer durchaus kreative Zugänge zum Thema "Protest".

Tausende Jugendliche, die konzertiert in Einkaufszentren auftauchen, Demonstrationen, die in Straßenschlachten eskalieren: Seit Monaten schwelen soziale Unruhen in Brasilien, die bevorstehende Fußball-WM hat ihnen noch einmal Brennstoff geliefert. Als "neues staatsbürgerliches Bewusstsein" wertet das der österreichische Wissenschaftler und Brasilien-Experte Benjamin Daxl.

Der Kultur- und Sozialanthropologe, der längere Zeit in Brasilien verbracht hat, widmet sich heute im Zuge der 9. Tage der Kultur- und Sozialanthropologie in Wien der neuen Protestkultur in Brasilien. "Es ist der Prozess der demokratischen Öffnung, der nun auch im Bewusstsein der breiten Masse angekommen ist", erklärte Daxl den Beginn der Proteste im vergangenen Jahr. Er ortet in den Unruhen nicht nur Zeichen einer "demokratischen Öffnung", sondern auch eine "Krise der politischen Repräsentation".

Rechte einfordern

Nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 habe es eine fortschrittliche Verfassung gegeben, in der auch zahlreiche Bürgerrechte verankert worden seien – in der Praxis habe das allerdings ganz anders ausgesehen. "Jetzt tauchen diese Bürger auch auf der politischen Bühne auf und fordern ihre Rechte ein", sagt Daxl. Dabei gehen die Protestierenden durchaus kreativ vor: Bei sogenannten "Rolezinhos" treffen sich etwa Tausende Jugendliche aus der Peripherie in Einkaufszentren, um auf sich und die sozialen Unterschiede in Brasilien aufmerksam zu machen. Andere nutzen die Aufmerksamkeit, wollen gleich die ganze WM absagen und haben sich vorgenommen, Spiele zu stören.

Mit Demonstrationen in diesem Ausmaß habe niemand gerechnet, sagt Daxl. Entzündet hatten sich die Proteste an einer Tariferhöhung der öffentlichen Verkehrsmittel, dann weiteten sich die Forderungen auf den Bildungs- und Gesundheitsbereich aus. Die Großereignisse Confederations Cup und WM brachten das Fass zum Überlaufen: "Für diese Events hat man Geld, aber für eine bessere Infrastruktur nicht – da war die WM ein guter Aufhänger." Es sei zwar nicht die Mehrheit der Bevölkerung, die demonstriert, aber: "Die Proteste sind in der Mittelschicht angekommen."

Überraschend sei vor allem, dass sich die Brasilianer gegen die WM im eigenen Land wenden: "Die Bevölkerung weiß sehr genau, dass sie in der Welt als fußballbegeistert wahrgenommen wird und will nun zeigen, dass sie sogar bereit wäre, für wichtigere Anliegen auf die WM zu verzichten."

Die Regierung unter Präsidentin Dilma Rousseff hat die Gesetze deutlich verschärft, Demonstrationen in Stadionnähe sind nun verboten, die Überwachung wurde ausgebaut. Während man der Bevölkerung in Details wie einer Tarifreform bei den öffentlichen Verkehrsmitteln entgegengekommen ist, beantwortet die Regierung die Proteste weitgehend mit repressiven Maßnahmen. International wolle man das Gesicht wahren, auch in den brasilianischen Medien werde daher kaum über die Unruhen berichtet, oft versuche man sie als Krawalle abzutun. Sozialanthropologe Daxl: "Das ist sicherlich eine reduzierte Sichtweise. Es geht da schon dezidiert um gesellschaftliche Anliegen von Menschen, die an ihr Recht glauben, diese einzufordern."

Der 27-fache deutsche Nationalspieler Mario Götze (21) engagiert sich für Mädchen-Fußball in Brasilien. "Die Mädchenfußball-Projekte von Plan International stärken die Mädchen im Nordosten Brasiliens und geben ihnen durch Bildung die Chance auf eine bessere Zukunft", sagte gestern der Bayern-Profi, der seit einigen Tagen Botschafter des Kinderhilfswerks Plan International ist.

Denn neben Fußball-WM, Samba und Traumstränden habe Brasilien noch eine andere Seite: Die Kluft zwischen Arm und Reich öffne sich immer weiter, sagte der Mittelfeldspieler, allein acht Millionen Kinder und Jugendliche leben unterhalb der Armutsgrenze.

Ziel des Mädchenfußball-Projekts ist es, die Gleichberechtigung zu fördern und das Selbstbewusstsein der Mädchen zu stärken.

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