Es läuft noch nicht rund in Brasilien

Gooooool!" Wöchentlich rittern brasilianische Sport-Kommentatoren, wer den längeren Atem hat, um sich in die Herzen der Fußball-verrückten Nation zu brüllen. Denn der Zug zum Tor ist derzeit noch ausgeprägter als sonst: Der 1000-Tage-Countdown für die Heim-WM 2014 läuft seit Mitte September. Doch während der Wirtschaftsmotor weiterbrummt, läuft ums runde Leder nicht alles rund.
Erst in der Vorwoche hatte sich der Sportminister mit einer Korruptionsaffäre selbst ins Abseits gespielt. Weil er Gelder für ein soziales Kindersport-Programm abgezweigt hatte, so der Vorwurf, musste er zurücktreten. Auch die nötigen Stadion(-um-) bauten gehen eher schleppend voran:
Obwohl im berühmtesten Fußball-Oval des Kontinents, dem Maracana-Stadion, 3500 Arbeiter rund um die Uhr werken, wurde erst ein Drittel aller Projekte auf den Weg gebracht.
Weit hinter den Vorgaben hinken auch die dringend benötigten Infrastruktur-Maßnahmen her. Problemkind Nummer eins sind die Flughäfen, die aufgrund des ökonomischen Booms der vergangenen Jahre und des wachsenden Mittelstandes jetzt schon an der Grenze der Leistungsfähigkeit sind. Denn die Zahl der Passagiere wächst in Brasilien mit seinen 195 Millionen Einwohnern jährlich um 20 Prozent. Allein auf dem Airport in São Paolo tummelten sich im Vorjahr 27 Millionen Fluggäste, bis zur WM soll die Kapazität auf rund 53 Millionen Passagiere verdoppelt werden - und bis zu den
Olympischen Spielen 2016 soll das Volumen nochmals steigen.
Fachkräftemangel
Öffentliche Gelder für diese Investitionen gäbe es genug. Der atemberaubende wirtschaftliche Höhenflug ließ die Staatskassen klingeln: Die Summe von 350 Milliarden Dollar an Währungsreserven ist doppelt so hoch wie jene Italiens. Doch langsam gehen die Fachkräfte aus - auch am Bau. "Weil es zu wenig Maurer gibt, wird in einigen Regionen längst nicht mehr der Mindestlohn bezahlt (umgerechnet 280 Euro, Anm.), sondern die Arbeiter erhalten bis zu 1200 Reais (500 Euro) - so viel wie ein Volksschullehrer zu Beginn", sagt Gewerkschafter
Gustavo Garcia zum KURIER. Elektriker, Verkäufer, Service-Kräfte und Finanzexperten sind ebenfalls Mangelware.
Im Zuge der europäischen Schuldenkrise hat der Sturmlauf der brasilianischen Ökonomie - die ist schon die achtgrößte der Welt - zwar etwas an Tempo verloren. Doch mit dem für heuer prognostiziertem Wachstum von 3,5 bis 4 Prozent (im Vergleich zu 7,5 Prozent im Vorjahr) lässt es sich doch ganz gut leben.
Dadurch werden wieder einige Hunderttausende der Armutszone entkommen und zum Mittelstand aufschließen. 20 bis 30 Millionen ist das in den vergangenen zehn Jahren geglückt.
Ausschlaggebend dafür waren die Sozialprogramme des früheren Präsidenten Lula (2002- 2010). In seinem Modell des Wohlfahrtsstaates, das von seiner Nachfolgerin Rousseff fortgeführt wird, "wurden Sozialausgaben nicht als notwendiges Übel erachtet, sondern als Lokomotive, die die Wirtschaft zieht", sagt der Leiter des brasilianischen Wirtschaftsforschungsinstituts IPEA, Marcio Pochmann. Die Armen seien zu Konsumenten geworden, die den Binnenmarkt angekurbelt hätten und für den Boom mitverantwortlich seien.
Nicht rosig
"Aber es ist nicht alles Gold, was da glänzt", warnt Garcia vor einer allzu rosigen Sicht der Dinge. Noch immer müssten Millionen Brasilianer ein Dasein in bitterer Armut fristen. "Die Einkommensverteilung ist nach wie vor eine Katastrophe: Ein Prozent Reiche verfügt über mehr als die Hälfte des nationalen Reichtums." Dagegen will der Gewerkschafter ankämpfen - nach dem Motto: Nur ein ausgeglichenes Team schießt die entscheidenden Tore und spielt schlussendlich den Sieg nach Hause.
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