Semipalatinsk und das Kurtschatow Polygon

Semipalatinsk und das Kurtschatow Polygon

Während wir hier in Semey (Nursultan Nasarbajev ließ das Synonym für Horror "Semipalatinsk" umbenennen, um Investoren anzulocken) frühstücken und uns bewusst sind, dass wir nach den Tagen in diesem Gebiet noch "strahlender" durch die Gegend tingeln werden, hören wir Radio.

Hier sind wir zwar schon lange in Kasachstan, aber aus dem scheinbar einzigen Sender im Hotel, nämlich "Autoradio Kasachstan" tönt es rein russisch mit direkten und ausschließlichen Nachrichten und Anweisungen aus dem weit entfernten Kreml. Das wäre ja beinahe so, als würde bei uns die gute Angela aus dem Nachbarland ununterbrochen quasseln und den Ösis sagen, was wir denn alles zu tun hätten. Dazu erzählen uns noch ein paar politisierende Frauen am Nebentisch wieder einmal, wie super alles damals hier in der UDSSR war. Sauber, nicht so zugehüttelt und überall Blumen.

Wir sehen sie entgeistert an, wenn man bedenkt, das hier während der Atom-Tests in der Gegend um Semei vor allem unterhalb von Kurtschatow ca. 700’000 Menschen lebten, von denen wiederum 200’000 durch die Versuche massivst gesundheitlich von der Strahlenbelastung betroffen waren.

Semipalatinsk und das Kurtschatow Polygon

Denn das Atomtestgelände Polygon - wo man sich ohne Strahlenanzüge nicht einmal in die Nähe wagen sollte - südlich von Kurtschatow - und wo wir jetzt hinfahren werden - liegt nur einen Steinwurf westsüdwestlich der Stadt Semey in der kasachischen Steppe in 100 bis 300 m Höhe mit Gebirgszügen von bis zu 1200 m Höhe.

Beim Ausfahren von Semipaladinsk, wo Dostojewski im Exil war - treffen wir auf ehemalige, russische Elitefallschirmspringer, vor einem Denkmal vis a vis der medizinischen Fakultät, die im Afghanistan Krieg 1979 bis 1989 gedient - unter anderem Vitali, mit dem wir über seine Eindrücke und Erfahrungen sprechen und der uns über seine Einsätze und die Gefahren in diesem Konflikt erzählt. Wir tauschen noch unsere Nummern für weitere whatsapp News und vereinbaren, auf jeden Fall in Kontakt zu bleiben.

Beim Tanken an einer Gaspromnieft Tankstellle - 80 Liter um knapp 30 Euro - treffen wir dann den 33 Jahre alten Renad. Er wurde - als Opfer der Strahlung - schwer behindert geboren, seine gesamte linke Seite gelähmt.

"Rund 2000 gibt es hier von meiner Sorte", weiss er aus der Klinik, in die er jeden Tag zur Behandlung muss. "Und sicher 10 mal so viele geistig Behinderte. - Bei denen arbeitet vor allem der Kopf nicht - golowa nje rabotajet - nein, der Kopf arbeitet nicht". Renad erhält 33.000 Tenge vom Staat Unterstützung. Das sind Ca. 160 Euro. Dazu hat er eine soganannte "Polygonkarte" bekommen, die er für medizinische Hilfeleistungen (siehe auch Filmverweise im Anhang) vorweisen muss, aber "Die meisten von "Denen", die noch leben, gehen ohnedies nicht aus dem Haus, so entstellt sind sie".

Semipalatinsk und das Kurtschatow Polygon

Gut die Hälfte der jungen - auf den ersten Blick "normal" wirkenden Menschen - das haben auch wir bei etlichen Gesprächen festgestellt, haben Sprachfehler oder wirken teilweise autistisch, manche Kinder völlig hyperaktiv und teilweise ohne Koordination.

Vorbei an einem Friedhof kommen wir schließlich ins 130 km entfernte Kurtschatow, südlich davon liegt direkt angrenzend das berüchtigte "Polygon". Ein mulmiges Gefühl beschleicht uns, wenn man bedenkt, was hier vor 66 Jahren begann. Ging's nach unserem Udo Jürgens, wohl das blühende Leben, hier aber können wir eher vom neuen "Lebenszeitalter" sprechen, wo Pilze zu blühen begannen und der schleichende Tod Einzug hielt.

Denn vor 66 Jahren,, dem 29. August 1949 ändernt sich alles. Die Wissenschaftler sind nervös und genauso unruhig wie die rund 1500!!! Tiere, die rund um das Experimentierfeld unter und über der Erde in ihren Käfigen sitzen. Um sie herum stehen Attrappen von Häusern, Panzern, Flugzeugen und UFO artigen Flossen, die aus dem Boden ragen, um die Strahlung zu messen. Die Menschen am "Hebel" ziehen sich in Schutzräume zurück, die Versuchstiere bleiben in der Gefahrenzone. Die Einwohner der Umgebung haben nicht die geringste Ahnung davon, was hier gleich los sein wird. Und dann ist es soweit. Das sowjetische Atomteam zündet in Semipalatinsk-21 - die Bezeichnung für Kurtschatow, das damals nicht mehr, als ein geheimes Postfach war - die Megabombe sichere 3000km von Moskau entfernt.

Sie hinterlässt eine gewaltige, tellerförmige Mulde. Das Stahlgerüst verschwindet, ist ebenso wie die Attrappen komplett pulverisiert, verdampft und mit der Explosionswolke in alle Richtungen verweht. Auch auf die eigenen Soldaten. Die Tiere in den Käfigen sind tot, verbrannt bis zur Unkenntlichkeit, ineinander verklebt.

Die Wissenschaftler jubeln, sie haben ihren Auftrag erfüllt. Stalin ist begeistert. Es war der Beginn eines Rekords. Denn die Anlage hält ihn bis zum heutigen Tag für eine Region mit der größten Konzentration von nuklearen Explosionen der Welt: 456 Tests in 40 Jahren von 1949 bis 1989, bis zur Schließung der Anlage im Jahr 1991 von den Sowjets strengstens unter Verschluss gehalten. Die Reaktion der UDSSR auf das deutsche Uranprojekt und das US Manhatten Projekt der 1930er und 1940er Jahre. Tatjana, wie die erste A-Bombe der Sowjetunion genannt wird, liegt damals technisch noch weit hinter dem amerikanischen Vorbild Fat Man zurück, das der sowjetische Geheimdienst längst für Kurtschatow ausspioniert hatte, Tatjana ist also nur eine nachgebastelte Kopie. Aber effektiv. Stalin gönnt keine Ruhe und lässt hurtig weiter rüsten. Bereits 1950 wird die UdSSR fünf Atombomben, ein Jahr später 25 besitzen.

Die Stadt, in der wir uns befinden, trägt den schon bereits erwähnten Namen von Igor Kurtschatow, dessen "heldenhafte" Statue den Platz an der Hauptstraße ziert.

Semipalatinsk und das Kurtschatow Polygon

Er wurde damals von Stalin zum Direktor des gesamten Atom - Programms ernannt. Stalin befahl ihm die Produktion einer Bombe bis 1948 und setzte den Geheimdienstchef Berija als direkten Leiter des Projekts ein.

Kurtschatow hatte zuvor an der Universität Simferpol studiert und wechselte 1925 an das physio-technische Institut, wo er unter Abram Joffe studierte - der die anfangs begonnene Mitarbeit im Projekt - in scheinbar weiser Voraussicht - bald darauf ablehnte.

Joffe selbst gilt als einer der Begründer der modernen Physik in Russland, lernte u.a. bei Conrad Röntgen in München, ging danach aber wieder in sein Heimat zurück. Als 49 schließlich die erste sowjetische Atombombe erfolgreich gezündet wurde, bemerkte Kurtschatow - der weithin für seinen ungepflegten, langen Bart bekannt war und ihn erst nach erfolgreichem Atombombenprogramm schneiden lassen wollte - später dazu, dass ihm in diesem Moment ein Stein von Herzen fiel, zumal er sicher sein konnte, im Falle eines Fehlschlags an Ort und Stelle erschossen zu werden...

Das Gebiet um Semipalatinsk liegt heute an 4. Stelle der am meist verseuchtesten Gebiete der Welt, hinter Fukushima, Tschernobyl und Maiiluusuu (Kirgistan), letzteres ist aber im Gegensatz von Semipaladinsk kein nuckeares Testgelände, sondern aus dem Bergbau und somit der Förderung radioaktiver Materialien komplett kontaminiert. Hier wird nach wie vor Uran gefördert und aufbereitet, zudem gibt knapp zwei Millionen Kubikmeter Abfälle auf insgesamt 36 Giftmüllkippen. Der Tod durch Strahlung kommt aber auch hier leise, geruchlos und unsichtbar...

Hier in der kasachischen Steppe ist das direkte Gelände ums berüchtigte Polygon für uns nur mit Sondergenehmigung befahrbar - wir bekommen die Erlaubnis für den Krater vorerst nicht - man stellt sich freundlich dumm und zuckt nach dem Nachfragen beim Geheimdienst nur mit den Schultern (was natürlich ganz deutlich den Eindruck verstärkt, dass man nach wie vor etwas verschleiern möchte) - alles, mitsamt der angrenzenden Orte galt während der Versuche überhaupt und sowieso als top Secret und gesperrt. Man setzt hier also - zumindest uns gegenüber - die Tradition der vermeintlichen Vertuschung der UDSSR fort, anstatt dazu zu stehen - scheinbar hat es sich zu dem "Behördchen" hier im "Kretzel" noch nicht ganz durchgesprochen, dass die gesamte Welt davon schon Jahrzehnte weiß und im kasachischen Internet die Rede davon ist, es sowieso bald für Touristen öffnen zu wollen ;-))) Die Bevölkerung damals hatte diesen Wissensvorsprung noch nicht, denn die wusste - uninformiert - weder etwas vom radioaktiven Niederschlag noch von dessen Auswirkungen...man gaukelte ihr etwas von wunderbaren Waffen gegen den Westen vor, die beschützen sollten...das andere vertuschte man gekonnt.

Nur - Wie soll man denn einen Atompilz vertuschen, wenn auf insgesamt 18.500 km2 (entspricht in etwa der Größe NÖ) in einer ersten Phase bis 1962 Explosionen in der Atmosphäre oder am Boden überwiegend im nördlichen Teil des Geländes stattfanden, die man kilometerweit in Lichtblitzen und Erdbeben spürte und die zu einer erheblichen Strahlenbelastung der Atmosphäre führte. Ab dem Jahr 1963 wurden die Tests auf dem Gelände ebenfalls in Bohrlöchern und Tunneln im Balaplan-Gebiet bzw. in den Degelen-Bergen durchgeführt. 496 Atomwaffen wurden gezündet, 113 über- und 383 unterirdisch. Dies entspricht etwa der Sprengkraft von 2500 Hiroshima-Bomben. Die Strahlung misst heute, 20 Jahre nach der letzten Sprengung am Krater einen Wert, der ungefähr 400 mal höher als der empfohlene Maximalwert ist. (Siehe auch Anhangmaterial).

In Europa ist das Gebiet Semipalatinsk heute kaum ein Thema mehr - oder Hand aufs Herz - hätten Sie's gewusst, dass es das gibt? - obwohl till today mehr als 1,3 Millionen Menschen an den Folgen der Atomexplosionen leiden? Nun, man wird wieder davon hören, denn im Moment ist ein großes Atomkraftwerk am Polygon geplant, das mit den Russen gemeinsam errichtet wird!

Das Ackerland ist dort sowieso unbrauchbar geworden und doch weiden Kühe darauf. Die Liste der "neuen" Krankheiten daher lang. Semipalatinsk ist heute weltweit das einzige Gebiet um ein ehemaliges Atomwaffentestgelände, auf dem die Menschen trotz der starken Verstrahlung weiterleben. Während der Atomwaffentests und bis heute wurde kein einziges Dorf der Region evakuiert. Die Gefahr einer Krebserkrankung schwebt weiterhin über den Bewohnern dieser Gegend wie ein Damoklesschwert. Ihre Rate ist bei Erwachsenen und Kindern doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Zahlreiche Kinder kommen mit Missbildungen zur Welt und werden von ihren Eltern vor Waisenhäusern ausgesetzt.

Das Krebszentrum der Stadt Semei stellte stark erhöhte Häufungen von Tumoren der Lunge, des Magens, der Brust und der Schilddrüse in der betroffenen Bevölkerung fest. Das kasachische Institut für Strahlenmedizin und Ökologie itself fand derweil eine belastbare Assoziation zwischen der Höhe der Strahlenbelastung und dem Auftreten genetischer Defekte in Familien, die in der Umgebung der Testgebiete lebten.

Untersuchungen der Universität von Leicester - so lesen wir - konnten diese Beobachtungen stützen: Die britischen Wissenschaftler fanden im Jahr 2002 eine um 80 % erhöhte Rate an DNA-Mutationen in der betroffenen Bevölkerung sowie eine 50 %-Erhöhung in der zweiten Generation.

Der 29. August - jener Tag, an dem das Atomwaffentestgelände Semipalatinsk im Jahr 1991 unter Nursultan Nasarbajew geschlossen wurde, ist heute der Internationale Tag gegen Atomtests. Kasachstan deklarierte an jenem Tag sein Ziel, atomwaffenfrei zu werden. Ein Unterfangen, das man als "engagiert" bezeichnen darf, schließlich galt damals Kasachstan noch als viertgrößte Atommacht der Welt.

Trotz der von den USA bezahlten! Betonierung der Gefahrenzonen (man befürchtete einen Missbrauch und Verkauf an andere Länder), sind dutzende von Stollen aber immer noch offen. Die Menschen dringen in die gefährlichsten Zonen vor - unwissend, worum es sich wirklich handelt - um Metallstücke und andere radioaktiv verseuchte Teile zu sammeln und die begehrte, - meist bestellte Beute dann weiterzuverkaufen. Es ist unmöglich zu wissen, wohin diese verstrahlten Metallteile letztlich gelangen. Die Zukunft der Betroffenen? Das weiß hier niemand...und man hat das Gefühl, keiner hier will so wirklich darüber nachdenken und reden...

Die Einfahrt, wo wir rein sind - und es gibt genau zwei Vorrangstrassen im Ort - ist voll von Plakaten und Hinweisen auf nukleare Forschung, überall im Ort Atommodelle aus Metall, vor dem Nukleartechnologiezentrum treffen wir die Wachen Jerla, Sharkan und Alik, die ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern, nachdem sie sich bei ein paar Glimmstengeln "aufgewärmt" haben. Wir fragen sie mal locker, wie es denn da so ist. Zuerst sehen sie alles "easy cheasy" und normal und sowieso als streng geheim, doch bei näherem fragen (als wir meinen, dass die ganze Welt ja ohnehin weiß, was hier geschehen ist) erzählen sie von den Kranken und Entstellten, die zu Hause oder in den Heimen herumvegetieren und verweisen und dann aufs gegenüberliegende Museum, das einem "Horrorkabinett" gleichen soll. Drin waren sie selbst noch nie, vom hören - sagen eben. Tierpräparate, der "Kommando Raum, Kinder - Köpfe in Spiritus und verbrannten Schweinen und ähnlichem... Wir fragen nach Katlawa - dem Krater im Polygon, dort, wo der Feuerball einst rauskam. "Wir waren dort noch nie, ist streng verbotenes Gebiet", antworten Sie und finden sich damit wohl auch ab. Ergänzen aber sogleich "Ist nur mit einer Spezialgenehmigung vom Akimat - und da nur auf spezielle Nachfrage und Zustimmung des kasachischen Geheimdienstes möglich.

Wir dringen weiter vor. Ich nehme aber gleich vorweg, das es mir nicht gelingen wird, den (Geister-)Ort Kurtschatow zu beschreiben, wenn man ihn nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Ich jedenfalls hab so etwas noch nicht gesehen. Man fühlt sich in einen Thriller hineinversetzt, wo jederzeit irgendetwas unvorhergesehenes passieren könnte. Der Ort teilt sich in zwei Hälften. Die eine links der langen, schmucken, bunten Fähnchen - Einfahrt, komplett menschenleer, verlassen, Häuser, nein Ruinen, verwachsene Straßen, es wirkt dumpf und gedrückt, ohne Seele und jeglichen Geist. Marionettenhaft. Ferngesteuert. Und doch leben hier 11.000 Menschen. Aber wo? Wo leben die bloß? Wir fahren die Straßen ab und nach Nachfrage zu einem kleinen Markt rechts der "Vorrangstrasse" in die "Neue Stadt", vorbei am Akimat und der Statue von Kurtschakow, 500m, wo aber der Ort auch schon wieder aufhört und eine Frau am winzig kleinen Hauptplatz Wassermelonen verkauft. Wir fragen sie, wo denn hier 11.000 Menschen wohnen? "Na in den Häusern da", sagt sie energisch. Nur wo sind da Häuser? Ich sehe 12 stöckige "Baracken", teils ohne Fenster, rostige Schaukeln davor und ein paar junge Menschen laufen zick zack durch die Gegend...sie flanieren wie auf der Avenue des Champs - Élyssés aber es ist nicht Paris. Ja, ein langer Platz mit schmucken Blumenbeeten, die man hegt, pflegt und gießt, damit - neben den Zahlungen des Staates - wenigstens auch noch ein bunter Anreitz da ist, um zu bleiben. Auffällt dabei, dass wir - während wir dort auf einer Bank Platz nehmen - großteils Mütter mit vielen kleinen Kindern beobachten. Männer sind selten, ältere Menschen - die Ältesten sind maximal 45 - sehen wir gar nicht. Wir erkennen auch nichts, was eine "normale" Stadt in unserem Sinn ausmacht. Ja, ein paar Geschäfte, eine Hüpfburg aus China, wieder Wassermelonen, aber keine Schulen, Cafés, Bars, Sportstätten, Kulturzentren, Banken, Kioske oder Kinos...das tägliche Leben eben...

Inmitten der Blumen - Kinder laufen drum herum - treffen wir auf die englischsprachige 88 jährige "Lady" Ljubov (Liebe), die einst hier (45 Jahre lang) unterrichtet hat, an grünem Star leidet, sich aber die Behandlung - auch bei einer Pension (mit dem Polygon - Opferausweis von Kurtschatow) umgerechnet 300 Euro ("Stay in town" und "vergiss es") - nicht leisten kann - "die Russen haben nie Entschädigungen geleistet und sind über Nacht einfach verschwunden", sagt sie. Sie mag die Stadt nicht (in Almati hatte sie ihr Haus und ihren Garten mit Obstbäumen), wohnt aber seit langem hier, weil ihre 60 jährige Tochter ebenfalls hier lebt, wie ihr Schwiegersohn, der in Tomsk studiert hat und vom Präsidenten selbst in die Atomforschung vor Ort geholt wurde.. Ihr eigener Sohn starb an Krebs. Sie erzählt uns vom "Negieren und Verdrängen" der jungen Menschen, die von der Vergangenheit nichts mehr wissen wollen und es wahrscheinlich auch nicht verstehen würden, von Müttern, die ihre missgebildeten Kinder vor Waisenhäusern aussetzen und vielen Alten, die man hier auf den Straßen nie zu Gesicht bekommen wird und die - wenn sie nicht mehr "tragbar" sind in die Heime außerhalb "abgeschoben" werden - gute Ärzte fehlen komplett und "experimentieren eher mit Pillen herum, als dass sie helfen könnten". Die nächste Spezialklinik in Semipaladinsk ist sehr teuer und bei mehreren Tausend Tenge pro Tag unleistbar für die normale Bevölkerung. Daneben gibt es nur zwei schlechte, russische Schulen im Ort, aber keinerlei Fremdsprachen mehr, wobei gerade Englisch ein Muss wäre und "Präsident Nasarbajev es auch vorgesehen hätte, Englisch zur dritten Amtssprache zu machen".

Viele Menschen verlassen so nach und nach die Stadt und gehen nach Sibirien, Almati oder Astana - in die Hauptstadt. Arbeit gibt es hier keine. Die Stadt, sagt sie, war sogar unmittelbar nach den Tests noch wunderschön und blühend, ein kurzer, trügerischer Schein, danach verfiel sie aber zusehends. Es war kein Geld mehr da, um die einst schönen Häuser, die durch die Tests völlig zerstört wurden -wieder herzurichten und die älteren Menschen starben sehr bald an den Folgen der Strahlung. Die Alten, mit denen sie zusammen ist, erinnern sich noch gut an die Explosionspilze, den grellen Lichtblitz nach jeder Detonation, die mit Erdbeben einherging und ihre extremen Kopfschmerzen danach. "Russland", so sagt sie, "fühlt sich für die Angelegenheiten in Kasachstan heute nicht mehr zuständig. Die Strahlung aber lassen sie uns" und lacht dabei. Doch das wollen die Wenigsten hier wahrhaben, die dem alten Regime sogar noch nachtrauern. Das Museum, sagt sie, lässt deshalb auch nur Touristen und Forscher hinein und da nur mit Genehmigung, kaum Einheimische, man möchte vermeiden, "dass man auf die Vergangenheit wieder zu sehr aufmerksam wird"... Zum Abschluss will sie noch mit uns ein paar Kekse teilen, die sie sich gerade gekauft hat...eine Lady durch und durch und wir sind sehr glücklich, diese liebenswerte, alte Dame getroffen zu haben. Ein Sonnenschein in einer grauen Stadt, der wir zum Abschied - es ist bereits dunkel geworden - eine Dose Vitamine - Pure 365 "All in One" mitgeben, damit sie die Stadt noch lange mit ihrem Charme verzaubern kann...

Die Zeit ist wie im Flug vergangen, wir hätten Ljubov noch lange zuhören können - aber es ist bereits spät geworden und für heute zieht es uns nur noch ins einzige Restaurant der Stadt und ich entscheide mich für - Scharkoe w Gorschotskach - einen Rindfleischeintopf mit Kartoffel - Mixgemüse um knapp 2,5 Euro, danach ins einzige (Spuk-) Hotel im klassischen Sowjet Stil mit kaltem Wasser und ohne Strom, welches damals extra für den Besuch des sowjetischen Außenministers Ustinov gebaut wurde, der aber nie kam und das den treffenden Namen Majak trägt (welcher für einen nicht minder berüchtigten, bekannten Ort bei Tscheljabinsk in Russland steht). Auch hier - sagt man uns - hätte man sich vorher anmelden müssen und um Genehmigung ansuchen, so einfach als Tourist in ein Hotel - wie kommt man da auch drauf? ;-))

Hier an dieser Stelle noch sehr interessante Links zu Zeitzeugen, menschlichen Versuchskaninchen, die schildern, was sich im Gebiet Kurtschatow abgespielt hat, mutierten Kindern und militärischer Taktik:

http://www.deutschlandfunk.de/steppenbeben-augenzeugen-der-sowjetischen.media.6a6da191eb366d6856a242ff44fd33d2.txt

http://youtu.be/c11o8o_imU0

http://youtu.be/BtJrjDVaJOo

http://m.spiegel.de/spiegel/print/d-9277845.html#spRedirectedFrom=www&referrrer=

http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/12/084/1208410.pdf

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