100 verlassene Orte
Gespenstische Ruinen, ehemalige Bunker oder geheime Militäranlagen, Sanatorien, verfallende Denkmäler und Geisterstädte: Im Bildband "Sillgelegt" (Dumont-Verlag) präsentieren die Fotografen Thomas Kemnitz, Robert Conrad und Michael Täger 100 fast vergessene Orte in Europa, hauptsächlich Deutschland. Sie wollten Stillstand als magischen Moment einfangen, als Übergang zwischen Nutzen, Verfall und Verschwinden. Kennen gelernt hatten sich die Fotografen durch ihre Mitarbeit am Forschungsprojekt "Virtuelles Museum der Toten Orte" der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft.
Die Orte, keine klassischen Reiseziele, sind im Bildband in fünf Teile aufgeteilt: Produzieren, Leben, Bilden, Transportieren und Schützen.
Produizeren
Kraftwerk Kelenföld, Budapest, Ungarn
Nach Entwürfen von Kálmán Reichl wurde das Kraftwerk Kelenföld in Ungarn errichtet, 1914 in Betrieb genommen und nach und nach erweitert. Die Jugendstil Schaltwarte von Virgil Borbiró etwa war seit den 1930erJahren in Betrieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Kaftwerk für die Fernwärmeerzeugung umgerüstet und versorgte im Jahr 1980 41.000 Budapester Haushalte. Noch in den 1990erJahren galt es als das modernste und größte Kraftwerk und zugleich als umweltfreundlichstes Gas-Kombi-Kraftwerk Europas. Die Stilllegung und der teilweise Rückbau des historischen Teils erfolgten 2005. Die Schaltwarte diente u. a. in dem US-amerikanischen Film "Chernobyl Diaries" (2012) zur Darstellung des Kontrollraums des Kernkraftwerks Tschernobyl.
Speisehaus Strömungsmaschinenwerk, Pirna, Deutschland
Das Speisehaus ist eines der wenigen verbliebenen Gebäude des in den Jahren 1956 bis 1958 errichteten Produktionskomplexes, in dem Triebwerke für das erste deutsche Passagier-Düsenflugzeug, "152", hergestellt wurden. Nach dem Aus für die DDR-Luftfahrtindustrie im Jahr 1961 produzierte das Werk als VEB Strömungsmaschinen Pirna Strömungs- und Kraftanlagen bis Anfang der 1990erJahre. Der im Stil der Nachkriegsmoderne errichtete Stahlbetonskelettbau stand seitdem leer. Das unter Denkmalschutz stehende Gebäude wird seit 2012 durch die LOFT-Projekt Pirna GmbH für Wohnzwecke umgebaut und vermarktet.
Leben
Erholungsheim der NVA, Frauenwald, Deutschland
Das NVA- Erholungsheim "Auf dem Sonnenberg" eröffnete am 26. Oktober 1978. Den Entwurf für den landläufig als "Sprungschanzenhaus" bezeichneten Komplex lieferte das Hochbaubüro Suhl unter Leitung von Erhardt Simon. Das modernste der NVA-Ferienheime verfügte über 138 Zimmer mit 444 Schlafplätzen. Medizinische und therapeutische Einrichtungen sowie ein 6 × 12 Meter großes Schwimmbad rundeten den Komfort ab. Ab 1985 absolvierten NVA-Piloten hier ihre dreiwöchigen Konditionierungslehrgänge. Die ausländischen Gäste kamen u. a. aus Algerien, Kuba, dem Jemen und Syrien. Seit 1991 steht die Anlage leer.
Hotel Belvedere, Dubrovnik, Kroatien
Das Hotel wurde 1985 von der Regierung der damaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien als eines der modernsten im Land errichtet. Doch nur sechs Jahre nach der Fertigstellung wurde es während der serbischmontenegrinischen Belagerung Dubrovniks schwer beschädigt. Während des Beschusses der Altstadt von Dubrovnik suchten unzählige kroatische Flüchtlinge Schutz in dem Hotelkomplex. Seit 1991 steht das Hotel leer. 2014 erwarb der russische Milliar där Wiktor Wekselberg den Komplex und strebt die Sanierung und Wiedereröffnung an.
Bilden
Buzludzha-Denkmal, Chadschi Dimitar, Bulgarien
Das Buzludzha-Denkmal auf dem Gipfel des 1441 Meter hohen Berges Chadschi Dimitar entstand 1981 nach den Plänen des Architekten Georgi Stoilow. Das anlässlich des 1300jährigen Jubiläums der Staatsgründung Bulgariens errichtete Denkmal umfasst einen kuppelüberwölbten Kongresssaal, der umlaufend mit Mosaiken verziert ist, einen ebenso mosaikenverzierten Außengang sowie einen 115 Meter hohen Turm, dessen rote Sterne einst beleuchtet und weithin sichtbar waren. Seit dem Ende der sozia listischen Herrschaft in Bulgarien steht das Denkmal leer und ist Verfall und Vandalismus ausgesetzt.
Staatszirkus Chisinau, Moldawien
Der moldawische Staatszirkus wurde 1981 eröffnet und bot Platz für 1900 Zuschauer bei Vorstellungen von Artisten und Tieren. Um den Innenraum mit der Manege ist ein ringförmiger Außengang über zwei Stockwerke angelegt, welcher mit Zirkusmotiven versehen ist, Wandmalereien im realsozialistischen Stil. Nach der Unabhängigkeit Moldawiens und der damit einhergehenden Inflation und Wirtschaftskrise wurde der Zirkus im Jahr 2004 geschlossen.
Transportieren
Autobahnbrücke, Kaliningrad, Russland
Im Rahmen der geplanten Autobahnverbindung Berlin–Königsberg entstand 1938 die vierspurige, zwei Arme des Flusses Pregel mit 633 Meter Länge überspannende Palmburger Brücke als größte Stahlbeton-Balkenbrücke des Reichs. 1945 erfolgte die Sprengung durch deutsche Truppen. Nach der sowjetischen Besetzung wurden von 1962 bis 1964 nur zwei Fahrspuren des Bauwerks provisorisch repariert. Von 2010 bis 2013 entstand eine neue sechsspurige Brücke; die Ruinen der alten Konstruktion werden seit 2013 abgerissen.
Schützen
Bunkeranlagen des Atlantikwalls Cap Ferret, Saint Jean de Luz, Anglet, Frankreich
Mit der von 1942 bis 1944 entstandenen, mehr als 2600 Kilometer langen Küs tenbefestigung des Atlantikwalls versuchte das Deutsche Reich vergeblich, seine westeuropäischen Eroberungen zu sichern. In Frankreich waren die enormen baulichen Anstrengungen am weitesten gediehen, da man hier berechtigt am ehesten mit einer Invasion der angloamerikanischen Alliierten rechnete. Die im Buch gezeigten (stellvertretenden) Typenbauten von den französischen Festungsabschnitten Gironde und Biarritz wurden nie angegriffen. Als nutzlose Landmarken zeugen sie bis heute von der Sinnlosigkeit des Kriegs.
DuMont Bildband Stillgelegt - 100 Verlassene Orte in Deutschland und Europa
Text: Stefan Bitterle
1. Auflage 2016, 224 Seiten, Softcover,
Preis: 30,90 € (A)
ISBN: 978-3-7701-8888-8
Kommentare