Der Club der sauren Zehe

In einem Martini Dry schwimmt eine Olive, im Cosmopolitan eine Orangenschale und in einem Glas Hendricks Gin eine Gurkenscheibe. Die gehaltvolle Einlage im "Sourtoe Cocktail": eine menschliche Zehe. Genauer, eine Zehe, die ihrem Besitzer erfroren amputiert werden musste, von ihm an das "Downtown Hotel & Saloon" gespendet und anschließend gepökelt wurde. Makaber? Mit Sicherheit. Unappetitlich? Garantiert. Aber schon der schottische Dichter Robert Service (1874 bis 1958) stellte fest: "Seltsame Dinge geschehen in Kanadas kaltem Norden." Und diese Yukoner Spezialität ist definitiv eine groteske Angelegenheit.
Doch wer glaubt, der Drink sei vor allem bei trinkfesten Nekrophilen und Kannibalen beliebt, der irrt. Jede Nacht wollen dutzende Touristen das Getränk probieren, den Ekel überwinden und die Grenze des guten Geschmacks überschreiten. Wer es wagt und trinkt, wird in Dawson City in den "Sourtoe Cocktail Club" aufgenommen.
Küss die Zehe

Der Eintritt in den 1973 gegründeten Club gestaltet sich einfach und mehr als 43.500 Personen haben sich bereits getraut. Das Prozedere: Man ordert ein beliebiges Basisgetränk mit mindestens 40 Prozent Alkohol und bezahlt zusätzlich fünf kanadische Dollar. "Die meisten bestellen Yukon Jack, einen Whiskeylikör, der mit Honig gesüßt wird", sagt Kellnerin Marianne und schmeißt das schrumpelige Glied ins Glas eines Besuchers. Beim Trinken muss nur eine Regel beachtet werden - der gepökelte Zeh muss die Lippen berühren. "Toe Captain" Marianne mahnt deshalb: "You can drink it fast, you can drink it slow, but your lips gonna touch the dirty old toe". Frei übersetzt bedeutet das: "Du kannst schütten oder nippen, aber der Zeh muss an deine Lippen." Der Mann trinkt schnell, reißt die Arme in die Höhe und jubelt. Marianne überreicht ihm ein Zertifikat. Er, Mitglied Nummer 43.572, strahlt vor Freude. Der skeptische Zuschauer rümpft die Nase und wundert sich.
Eine Zehe hält zwei bis drei Jahre

Der Zeh, der heute in den Gläsern schwimmt, ist nicht mehr das Original. Der Legende nach stammt der erste "Sourtoe" von Louie Liken, der während der Prohibition in den 1920er Jahren mit einem Hundeschlitten Rum von Kanada nach Alaska schmuggelte. Bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei bekam er schließlich kalte Füße - ihm fror ein Zeh ab. Er rettete sich in die Hütte seines Bruders, der das erfrorene Glied mit einer Axt vom Fuß hakte. Weil es wilde Tiere angelockt hätte, warfen sie den Zeh nicht vor die Türe, sondern legten ihn in Alkohol ein.
Der Dampfschiff-Kapitän Dick Stevenson kaufte 50 Jahre später die Hütte, fand das Glas beim Ausmisten, nahm es mit nach Dawson City und erlaubte sich folgenden Schabernack: Er sprach Bekannte, Durchreisende und Barbesucher an und scherzte, er würde sich mit ihnen verbrüdern, wenn sie nur einen Drink nehmen, in dem dieser Zeh schwimmt. Die Leute stiegen darauf ein und der "Sourtoe Cocktail Club" war geboren.
Der Zeh, der aktuell im Schnaps gereicht wird, ist bereits das vierzehnte oder fünfzehnte Exemplar: "Wir haben den Überblick verloren. Ich kann es nicht genau sagen. Aber die jetzige Zehe wurde von einem humorvollen kanadischen Arbeiter gespendet, dem sie wegen Erfrierungen amputiert werden musste", erzählt Marianne. Vor ihm haben schon viele gespendet, denn Ersatz war nötig: Zwei Zehen wurden von übereifrigen Trinkern verschluckt und ebenso viele als exotisches Souvenir gestohlen. Der Rest ging alle zwei drei Jahre den Weg allen irdischen und landete im Müll.
Attraktion
Wieso sollte man zu diesem bizarren Getränk greifen? Aus Respekt, wie der Webseite des Clubs zu entnehmen ist: "Du sollst es tun, weil die Menschen dich in deiner Heimat ehrfürchtig anschauen und flüstern werden: ‚Siehst du den dort? Er hat den Sourtoe Cocktail getrunken‘." Die Leute werden starren. Wahrscheinlich mit offenem Mund und verzogener Miene. Ob es Bewunderung ist, die ihre Gesichtszüge entgleisen lässt, ist so fraglich wie die Einlage des Cocktails. Doch sicher ist, für Oliven, Orangeschalen oder Gurkescheiben würden Touristen nicht Schlange stehen. Auch nicht im seltsamen Norden.
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