Tschetschenien: Ein Land als Tabuzone

Ramsan Kadyrow spricht gerne und ausschweifend – und vor allem aus seinem Leben. Umringt von seiner Entourage, erzählt der tschetschenische Präsident von den Kriegen, von seinen Taten und von sonst so allerlei. Und wenn Kadyrow einem seiner am Tisch sitzenden Berater gegenüber erwähnt, dass er ihn vor ein paar Jahren noch am liebsten persönlich erschossen hätte, knallt er mit der Hand auf die Armlehne und lacht laut. Auch der Berater lacht – nur weniger laut.
Kadyrow sitzt in einem grünen Ledersofa in seinem mit dunklem Holz getäfelten Büro und erzählt, reibt sich unruhig die Nase, tippt auf einem Mobiltelefon herum. Er spielt sein Spiel, sein DKT, er ist der Mann der Stunde – und so agiert er auch. Ein 35-jähriger Typ aus den Bergen
Tschetscheniens, Sohn eines einflussreichen Vaters, der im ersten Tschetschenien-Krieg noch gegen die Russen die Waffe erhoben und dann die Seiten gewechselt hatte.
Manche sehen in Ramsan Kadyrow einen blutrünstigen Opportunisten, andere charakterisieren ihn als durchaus machtbewussten und cleveren Strategen mit dem Motto: "Wenn du deinen Feind nicht besiegen kannst, so arrangiere dich mit ihm – so lange, bis seine Leiche den Fluss hinuntertreibt."
Aufbau
Er hat sich arrangiert. Tschetschenien ist heute übersät mit Plakaten, auf denen der russische Noch-Premier und wohl künftige neuerliche Präsident Wladimir Putin zu sehen ist, und denen von
Ramsan Kadyrow oder dessen Vater Achmat Kadyrow. Oder beiden.
Die Hauptstadt Grosny, bei der man nach den Zerstörungen des ersten Krieges überlegte, ob man sie überhaupt wieder aufbauen sollte, steht heute zumindest wieder und bietet Wohnraum. Und selbst Kritiker im Land sagen, dass der Wiederaufbau das geringste Problem sei.
Zugleich fügen sie massive Klagen an: Etwa über die von der Führung betriebene Islamisierung. Dabei besteht die Bevölkerung ohnehin zu fast 100 Prozent aus Muslimen, die aber überwiegend laizistisch eingestellt sind. Oder darüber, dass man die Vergangenheit der Kadyrows als Widerstandskämpfer gegen Russland besser nicht erwähne; dass man an der Führung auch nicht Kritik übe, weil man sonst in gravierende Probleme gerate; oder auch darüber, dass man in der kleinen Region schon als potenzieller Gegner des Präsidenten keine Arbeit und damit keine Lebensgrundlage finde.
Abendnachrichten im tschetschenischen Fernsehen: Erste Meldung – Kadyrow besucht eine Modenschau, wo Frauenmode gezeigt wird. Alle Models sind verschleiert, was mit der tschetschenischen Tradition wenig zu tun hat, aber immer mehr zu einer wird. Zweite Meldung – Kadyrow ordnet in einer Kabinettssitzung die sofortige Behebung aller baulichen Probleme an. Dritte Meldung – der Besuch einer Delegation der FPÖ, die lobende Worte für die Führung Tschetscheniens findet.
Kollektive Erinnerungslücke
Kadyrow residiert hinter Stacheldraht, in einer Festung mit Schießscharten und Sicherheitsbarrieren. Sein Arrangement mit Moskau ist eine Sache, das mit den rivalisierenden Seilschaften und Clans innerhalb Tschetscheniens eine ganz andere. Im Land selbst lauern die Gefahren für ihn.
Die Wunden von 20 Jahren Krieg können auch schöne Fassaden und neue Wohnblocks nicht übertünchen. Tschetschenien ist ein Land der Tabus. Die Kriege als kollektive Erinnerungslücke. Ein böser Traum, über den man nur im Flüsterton erfährt. Etwa dass viele der Männer, die heute die Geschicke der Region lenken und sie stolz als "Subjekt der
Russischen Föderation" bezeichnen, einst auf der anderen Seite standen. Dass etwa der heutige Vertreter Tschetscheniens im Föderationsrat in Moskau einst der radikalste Einpeitscher im ersten Krieg war.
Laut wird von den Zerstörungen gesprochen, von den Abertausenden Toten, dem Leid – wie von einer Naturkatastrophe. Bestenfalls leise darüber, dass es Tschetschenen waren, die aus den Bergen kamen, um Tschetschenen die Kehlen durchzuschneiden, sie zu vergewaltigen, sie zu lynchen – und dass Moskau dann Truppen schickte, die um nichts besser waren. "Das kann ich niemandem verzeihen", sagt ein junger Tschetschene. "Keinem hier – weder den Tschetschenen, die Tschetschenien zu dem gemacht haben, was es heute ist, noch den Russen."
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