Von Sozialhilfe bis Rauchen: Heikle Causen für die Höchstrichter

Das Ritual wirkt aus der Zeit gefallen: 14 Richter sitzen um einen runden Tisch. Einer liest laut vor. Satz für Satz für Satz. Mitunter mehrere Dutzend Seiten. Und ganz egal, wie lange er braucht, seinen Entwurf für eine Entscheidung vorzulesen: Die anderen hören zu, verhandeln zwischendurch über Halbsätze und Ergänzungen und stimmen der Entscheidung irgendwann mehrheitlich zu – oder schicken den Vorleser zurück zum Start.
Wenn sich die 14 Richter des Verfassungsgerichtshofes, kurz VfGH, im Juni wieder zur „Session“ auf der Wiener Freyung einkasernieren, dann entscheiden sie über gesellschaftspolitisch wichtige Fragen. Manche davon sind tagespolitisch delikat (siehe unten). So gesehen ist das Gremium ausnehmend politisch – „was es ja auch sein soll“, wie der Verfassungsrechtler Theo Öhlinger festhält.
Die Hälfte der VfGH-Richter wird von der Bundesregierung bestellt, die andere vom Parlament.
„In Wahrheit sind es die Parteien, die das entscheiden – bisher immer SPÖ und ÖVP, jetzt auch die FPÖ“, sagt Öhlinger.
Doch es wäre falsch zu glauben, die politische Besetzung münde in parteipolitische Entscheidungen.
„Natürlich ist es denkbar, dass ein Richter aufgrund seiner Gesinnung eine bestimmte Meinung in einer Rechtsfrage hat. Es gibt aber auch jene, die auf eine große Zurückhaltung in politischen Fragen Wert legen.“
Öhlinger gehört zu den erfahrensten VfGH-Kennern. Dennoch ist ihm kein Fall bekannt, bei dem ein VfGH-Mitglied zugunsten einer Partei abgestimmt hätte, nur weil sie ihn nominiert hat.
Ein wesentlicher Grund dafür ist wohl, dass der VfGH den einzelnen Richter schützt: Wer die zu entscheidenden Rechtsfragen vorbereitet, wer wie abstimmt und mit welchen Mehrheitsverhältnissen entschieden wird – all das wird nie bekannt gegeben.
Was erwartet sich Öhlinger von den nun anstehenden Entscheidungen? „Ich kann mir nicht vorstellen, dass etwa die Reform der Sozialversicherung ohne starke Änderungen des VfGH die Prüfung besteht.“
Worum es konkret geht (I): Karfreitag
Der persönlicher Feiertag steht am Prüfstand: Die evangelische Kirche kann und will die Sache so nicht hinnehmen und zieht wegen des „persönlichen“ Feiertags vor den Verfassungsgerichtshof.
Nachdem der EuGH entschieden hat, dass es diskriminierend ist, wenn evangelische und altkatholische Christen den
Karfreitag als bezahlten Feiertag freibekommen, müssen Angehörige der betroffenen Kirchen nun einen Urlaubstag, den „persönlichen Feiertag“, heranziehen, um den Karfreitagsgottesdienst am Vormittag zu besuchen.
Das wiederum empfinden die betroffenen Gläubigen als ungerecht – und wollen ihre Klage bis Mitte Mai vorlegen. Rechtlich werden die Vertreter der evangelischen und altkatholischen Kirche ins Treffen führen, dass der Gleichheitsgrundsatz zwischen den Religionen verletzt ist. „Denn schließlich“, sagt Synodenpräsident Peter Krömer, „haben die Katholiken an all ihren wichtigen Feiertagen frei, wir als Evangelische aber nicht.“ Auch das Recht auf Religion.
Worum es konkret geht (II): Nicht-Raucherschutz in Lokalen
Im Juni sollen die VfGH-Richter über eines der vermutlich am stärksten polarisierenden Themen der jüngeren Vergangenheit entscheiden: über den Nichtraucherschutz in Gasthäusern. Nach einer langen innenpolitischen Debatte, die sogar zu einem Volksbegehren mit 900.000 Unterschriften geführt hat, wollen die Wiener Landesregierung sowie ein Vater und seine Tochter das von ÖVP und FPÖ aufgehobene absolute Rauchverbot in Lokalen wieder einführen. Die Argumente dafür sind, vereinfach gesagt, folgende: Es ist gleichheitswidrig, wenn für Lokale unterschiedliche Regeln bei der Frage gelten, ob geraucht werden darf oder nicht.
Das zweite, starke Argument stammt von Ärzten und Arbeitnehmer-Vertretern: Durch das geltende Recht sind Arbeitnehmer, die in Raucherlokalen arbeiten, im Vergleich zu anderen gesundheitlich benachteiligt. Entscheidet sich der VfGH für ein absolutes Rauchverbot, wäre das insbesondere für die FPÖ unangenehm – sie war der Motor hinter der Re-Liberalisierung.
Worum es konkret geht (III): Kassenfusion
Gleichermaßen aufwendig wie heikel ist das laufende Verfahren über die Fusion der Gebietskrankenkassen.
Aus neun GKK soll eine – die Österreichische Gesundheitskasse – werden. Gegen das Mammut-Projekt in der Gesundheitspolitik liegen nicht weniger als sieben Klagen bzw. Anträge beim VfGH vor – eine davon kommt von der SPÖ-Fraktion im Bundesrat, vier von betroffenen Gebietskrankenkassen und auch die Arbeiterkammern Vorarlberg und Tirol haben schwere Bedenken gegen die Fusion.
Als größte Probleme der von ÖVP und FPÖ verabschiedeten Reform sehen die Antragsteller die neuen Mehrheitsverhältnisse in der Selbstverwaltung: Hatten bisher klar die Arbeitnehmervertreter in den Kassen das Sagen, werden die Selbstverwaltungskörper künftig paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern beschickt. Wann der VfGH in der Causa entscheidet, ist offen. Die sieben Anträge sind selbst für VfGH-Verhältnisse ausnehmend detailliert. Manche davon zählen mehr als 100 Seiten.
Worum es konkret geht (IV): Überwachungspaket
Es wurde schon 2018 beschlossen, doch nun ist das „Sicherheitspaket“ von ÖVP und FPÖ auch ein Fall für den Verfassungsgerichtshof.
SPÖ wie auch Neos haben so genannte Drittelanträge im Parlament (einmal im Bundesrat, einmal im Nationalrat) ausgearbeitet – ein Drittel der Abgeordneten kann das Höchstgericht bei einem Gesetz anrufen. Warum in dem Fall? Das Überwachungspaket ermöglicht der Polizei Zugriff auf einen Großteil der Überwachungskameras im öffentlichen Raum, verbietet anonyme Wertkarten-Handys und ermöglicht einen Bundestrojaner, also das Einschleusen von Überwachungssoftware auf die IT-Geräte von möglichen Straftätern.
Akzeptieren die Höchstrichter den Antrag der Neos, entscheiden sie auch, ob die Asfinag nicht nur alle Auto-Kennzeichen auf Straßen, sondern auch Fahrzeugtypen, Farbe und Gesichtszüge von Insassen erfassen darf. Für Kritiker des Pakets war all das schon vor dem VfGH-Verfahren eine überschießende „Vollüberwachung“.
Worum es konkret geht (V): Sozialhilfe
Die Stadt Wien und die SPÖ im Parlament, sie beide wollen und werden gegen die Reform der Mindestsicherung, die wieder Sozialhilfe heißen wird, beim VfGH klagen, sobald das Gesetz in Kraft ist. Soviel ist klar.
Klar ist auch: Die Entscheidung der Höchstrichter wird in jedem Fall weite politische Kreise ziehen. Denn während die Bundesregierung die neue Sozialhilfe für sozial gerecht und fair erachtet, verschärft diese laut ihren Kritikern die Armut.
Was wird juristisch bekrittelt? Für die Stadt Wien sind die Kinderzuschläge eine „sachliche Schlechterstellung“. Tatsächlich gibt es für Großfamilien ab dem dritten Kind nur noch 42 Euro Kinderzuschlag. Flüchtlinge, die schlecht Deutsch sprechen, bekommen weniger Geld – und stattdessen einen Deutschkurs im Wert von 300 Euro. Auch dass die Länder nur sieben Monate Zeit haben, um das Gesetz umzusetzen, hält die Stadt Wien für sachlich nicht gerechtfertigt.
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