Es gibt ein neues Reizwort in der Integrationspolitik, und das heißt: Familiennachzug.
Landeshauptleute wie zuletzt der Steirer Christopher Drexler (ÖVP) erwähnen ihn warnend in Interviews; und für Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer ist er mittlerweile zu einem "großen Problem" geworden.
Am Donnerstag hat das Innenministerium einen Bericht von Ö1 bestätigt, wonach rund 1.000 Fälle des Familiennachzugs großflächig geprüft werden.
Innenministerium drückt Stopptaste
Diese 1.000 Menschen sind Angehörige von legal in Österreich lebenden Zuwanderern. Doch obwohl die österreichischen Botschaften und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) schon vorab festgestellt haben, dass die Betroffenen sehr gute Chancen auf einen Nachzug nach Österreich hätten, sagte das Innenministerium, unjuristisch ausgedrückt, jetzt einmal Stopp: Zugesagte Termine für Gespräche wurden storniert. Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) erklärte dies damit, dass man den Verdacht hege, insbesondere bei syrischen Dokumenten Fälschungen aufgesessen zu sein.
NGOs wollen das nicht so recht glauben. "Dass man in Einzelfällen Zweifel anmeldet und prüft, ist in Ordnung und nachvollziehbar", sagt Lukas Gahleitner-Gertz, der Sprecher des Vereins Asylkoordination, zum KURIER. "Dass man flächendeckend alle Termine absagt und dies auch in Fällen tut, wo DNA-Tests eine Familienzusammengehörigkeit bereits nachgewiesen haben, spricht aber eher dafür, dass man öffentlichkeitswirksame Aktionen setzt, um bis zur Nationalratswahl die Zahlen künstlich zu drücken."
Doch wie groß sind die Herausforderungen wirklich? Ist der Familiennachzug ein integrationspolitisches Thema - oder nicht?
Was die Zahlen angeht, ist die Sache überschaubar: 2023 gab es rund 9.180 Anträge auf eine Familienzusammenführung, davon war gut ein Drittel Kinder im Alter zwischen null und sechs Jahren, wobei die Zahl der Anträge laut Innenministerium sinkt, zuletzt (im März) waren es rund 900.
Dessen ungeachtet ist unbestritten, dass der Familiennachzug die Schulen - und damit die Gesellschaft insgesamt - vor erhebliche Probleme stellt. Warum?
Weil er auf bereits existierende Herausforderungen und Missstände aufsetzt bzw. hinzukommt.
"Gerade in Wien ist die Lage besonders herausfordernd, weil schon 10.000 ukrainische Kinder in das Bildungssystem integriert werden mussten", sagt Gahleitner-Gertz. Die Vorkehrungen im Bildungssystem seien leider seit Jahren mangelhaft. "Und das, obwohl wenig in der Politik besser planbar ist als der kontrollierte Familiennachzug."
Und damit ist man schon beim Kern der Sache: Denn die Frage der Bildung ist vermutlich die Herausforderung in allen Bereichen der Migration und Integration.
Laut Zahlen des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) gibt es bei den Zuwanderern signifikante Unterschiede beim Bildungsgrad. So hat sich beispielsweise im Vorjahr gezeigt, dass gut zwei Drittel aller syrischen Kursteilnehmer in ÖIF-Kursen einen Alphabetisierungskurs besuchen mussten, sprich: Sie waren auch in ihrer Muttersprache nicht vollumfänglich des Lesens und Schreibens mächtig. Zum Vergleich: Bei ukrainischen Migranten lag der Anteil der primären Analphabeten bei elf Prozent.
Diesen enormen Startnachteil im Leben und am Arbeitsmarkt zu beheben, das braucht von allen Beteiligten einiges an Zeit und Energie. Beides ist bisweilen nur begrenzt vorhanden. Und das führt mit dazu, dass die Arbeitslosigkeit bei Syrern, Afghanen und Irakern laut AMS im Schnitt bei 29,6 Prozent (Jahreswert 2023) liegt - ein Wert, der dreimal höher ist als die Arbeitslosenquote der restlichen Menschen mit nicht-österreichischem Pass.
Was kann man tun?
Integrationsexperten wie die Grazer Geschlechterpädagogin Emina Saric plädieren dafür, die Bereiche Bildung und Integration in ganz Österreich gemeinsam zu denken und zu gestalten - und insbesondere die Lehrer bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Laut Saric sind viele der zu beobachtenden Probleme bei der Integrationspolitik vorwiegend in Ballungszentren und Städten zu beobachten.
Das liegt an der Tatsache, dass Geflohene - wie überhaupt ein Gros der Menschen aus Drittstaaten - dort "andocken", wo bereits Menschen mit ihrer Kultur und Sprache sind.
Residenzpflicht?
Menschlich und wirtschaftlich nachvollziehbar, erschwert bzw. konterkariert diese Konzentration mitunter die Integration. Mit Zwang kann sie derzeit kaum behoben werden. Denn obwohl die "Residenzpflicht", also die Verpflichtung in einem bestimmten Ort oder Bundesland zu bleiben, immer wieder diskutiert wird, besteht hier das Problem, dass der Europäische Gerichtshof dies bereits 2016 als rechtwidrig erkannt hat.
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