Ungarn: Keine EU-Rechtsnorm gekündigt

Die Regierung in Budapest rudert nach massiver Kritik zurück. Missverständnisse sollen ausgeräumt werden.

Nach massiver Kritik an der Suspendierung des Dublin-Asyl-Abkommens durch Ungarn rudert Budapest zurück. Die Regierung habe keine ungarische Anwendung einer EU-Rechtsnorm gekündigt, eine solche Entscheidung sei nicht getroffen worden, erklärte der ungarische Außenminister Peter Szijjarto am Mittwoch bei einer Pressekonferenz in Budapest.

Bestehende Missverständnisse hinsichtlich der Dublin-III-Verordnung (siehe unten) sollten ausgeräumt werden, wurde Szijjarto von dem Internetportal der Tageszeitung "Nepszava" zitiert. Ungarn halte alle Rechtsnormen der EU ein, erklärte der ungarische Außenminister. Jedoch habe die Regierung Informationen erhalten, wonach Österreich und andere zehn EU-Staaten illegale Einwanderer nach Ungarn zurückschicken wollen.

EU-Verpflichtungen werden erfüllt

"Damit sind wir nicht einverstanden", betonte Szijjarto. Denn diese illegalen Einwanderer hätten das EU-Territorium nicht in Ungarn, sondern in Griechenland betreten, deswegen müssten sie dorthin zurück. Die Regierung wies den Justizminister an, umgehen Verhandlungen mit der EU-Kommission zum Thema zu beginnen. Der ungarische Regierungssprecher Zoltan Kovacs hatte am Dienstag in Wien die vorübergehende Suspendierung des EU-Asylabkommen angekündigt.

Ungarn erfülle alle EU-Verpflichtungen, habe aber angesichts des massiven Flüchtlingsansturms aus Serbien mit ernsthaften Kapazitätsproblemen zu kämpfen (siehe unten), erklärte der ungarische Außenminister. "Wir arbeiten daran, diese technischen und Kapazitätsprobleme so bald wie möglich zu beheben, um alle EU-Anforderungen im Bereich Immigration erfüllen zu können", so Szijjarto weiter.

Massive Kritik aus Österreich

Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat die Suspendierung der Dublin-III-Verordnung durch Budapest als "inakzeptabel" kritisiert. "Das kann Österreich nicht tolerieren", so Kurz in dem Telefonat laut Außenministerium. Mit Empörung reagierte auch die SPÖ auf die Vorgehensweise Ungarns. Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos spricht von einem "inakzeptablen Bruch von EU-Recht".

Die österreichische Grenze sei schon jetzt "offen wie ein Scheunentor", empört sich Strache. Angesichts des "totalen Versagens der EU" in dieser Frage trage die Regierung die Verantwortung, "die Grenzen unseres Landes zu schützen", verlangt die außenpolitische Sprecherin des Team Stronach Jessi Lintl, die zusätzlich Kontrollen in Richtung Italien und Slowenien befürwortet.

Nach der Ankündigung Ungarns, die Dublin III-Verordnung vorübergehend auszusetzen, hat die EU-Kommission das Land aufgefordert, sich an die Gesetze zu halten. "Getroffene Vereinbarungen müssen respektiert werden", sagte die Vizepräsidentin der EU-Kommission Kristalina Georgieva am Mittwoch in Brüssel.

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Ungarn nimmt keine Flüchtlinge zurück

In Ungarn ist die Zahl der Asylanträge innerhalb eines Jahres um 1.236 Prozent gestiegen. Das geht aus den jüngsten Daten der EU-Statistikbehörde Eurostat hervor. Demnach wurden in dem Land - dessen Ankündigung, keine Flüchtlinge aus anderen EU-Staaten mehr zurückzunehmen zu wollen, für Aufregung gesorgt hat - im heurigen 1. Quartal 32.810 Anträge gestellt. Im 1. Quartal 2014 waren es noch 2.455.

Eine Grafik zeigt den Anstieg der Asylanträge in der EU im Vergleich zum Vorjahr.
Asylwerber erstes Quartal 2015 und Anstieg gegenüber 1. Quartal 2014, EU gesamt und ausgewählte Länder - Balkengrafik Grafik 0738-15-Asyl.ai, Format 88 x 55 mm
Die Steigerungsrate liegt damit deutlich über der durchschnittlichen Steigerungsrate innerhalb der EU: Diese betrug in diesem Zeitraum 86 Prozent (von 99.400 auf 184.815 Anträge). Und auch gegenüber jenen EU-Staaten, die eine überdurchschnittliche Steigerungsrate aufwiesen, hebt sich Ungarns Anstieg mit deutlichem Abstand ab: Österreich und Portugal verzeichneten den zweit-höchsten Anstieg - mit je einem Plus von 180 Prozent. Dies bedeutet dennoch eine fast siebenmal niedrigere Steigerungsrate als jene in Ungarn. In Österreich hatten im ersten Quartal des Vorjahres 3.470 Personen erstmalig einen Asylantrag gestellt, die Zahl stieg im ersten Quartal 2015 auf 9.710 Anträge.

Weit über EU-Schnitt

Auch bei den Asylanträgen pro 1 Million Einwohner liegt Ungarn mit 7.245 gleich hinter Schweden (7.765) auf Platz zwei. Dahinter folgt dann mit einigem Abstand Österreich: Im ersten Quartal gab es hier pro 1 Mio. Einwohner 3.750 Anträge. Auch in Malta (3.390) und in Deutschland (2.635) war die Zahl der Anträge pro Kopf vergleichsweise hoch. Im EU-Schnitt lag dieser Wert bei 365 Anträgen. Laut Innenministerium hat es von Jänner bis Ende Mai aus Österreich 620 Dublin-Überstellungen in andere Länder gegeben. Wie viele davon nach Ungarn gingen, wird noch recherchiert.

Die stark steigenden Asylzahlen in Ungarn ergeben sich aus den enormen Zuwächsen der Flüchtlingsströme auf der sogenannten West-Balkan-Route. Laut einem Report der EU-Grenzschutzagentur Frontex kamen in den ersten fünf Monaten des Jahres 50.430 Personen auf diesem Weg in die Union. Im Vergleichszeitraum 2014 waren es bloß 5.143. Das entspricht einem Anstieg von 881 Prozent.

Westbalkan-Staaten

Die Mai-Zahlen ergeben sogar schon ein Plus von 1.061 Prozent. Die allermeisten dieser Flüchtlinge kommen von den Westbalkan-Staaten wie Serbien über Ungarn ins Gebiet der Union, was die Explosion der Asyl-Anträge von über 1.200 Prozent im Nachbarstaat erklärt.

Eine Karte Europas zeigt die Anzahl der Asylbewerber pro Million Einwohner im ersten Quartal 2015.
Zahl der erstmaligen Bewerber im 1. Quartal 2015 - Säulengrafik Zahl der Bewerber pro Million Einwohner - Europakarte eingefärbt Grafik 0716-15-Asyl.ai, Format 88 x 144 mm
Ähnlich hohe Zahlen wie am Westbalkan wurden zuletzt auf der östlich-mediterranen Route vermerkt, die von der Türkei über Griechenland, Bulgarien oder Zypern in die EU führt. Hier wurden in den ersten fünf Monaten 48.015 Flüchtlinge gezählt, das Plus beträgt hier auch immerhin 450 Prozent. Ein Anstieg von nur 14 Prozent wird im Vergleich zu 2014 auf der zentral-mediterranen Route ausgewiesen, die von Nordafrika nach Italien oder Malta führt. Doch die absoluten Zahlen sind ähnlich hoch wie am Westbalkan oder bei der Route nach Griechenland, nämlich 47.008.

Die Dublin-Verordnung ist ein für alle EU-Staaten verbindlicher Rechtstext, der festlegt, dass jenes EU-Land für die Bearbeitung von Asylverfahren zuständig ist, in dem Schutzsuchende erstmals EU-Boden betreten haben. Sie wird immer wieder heftig kritisiert, weil sie Länder an der EU-Außengrenze wie Ungarn, Italien, Griechenland, Bulgarien oder Malta besonders stark in die Pflicht nimmt.

Auch ist es in der Praxis oft schwierig, festzustellen, über welches Land Migranten tatsächlich in die EU eingereist sind. Einerseits weil nicht alle potenziellen Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen tatsächlich registriert werden - ihnen also Fingerabdrücke genommen werden. Andererseits weil nicht registrierte Migranten ihre Einreiseroute oft nicht freiwillig bekannt geben, weil sie ein bestimmtes EU-Land als Ziel haben und eine Rückschiebung vermeiden wollen.

Reform gescheitert

Rufe nach einer grundlegenden Reform des Dublin-Systems scheiterten bisher stets am Widerstand von EU-Staaten, die sich entweder nicht an der EU-Außengrenze befinden oder nicht Hauptziel von Flüchtlingen sind. Italien hat deshalb in der Vergangenheit bereits kurzfristige "Passierscheine" für Migranten ausgestellt, die diesen die Weiterreise in andere EU-Staaten erlauben. Ungarn ist jedoch das erste Land, das die Verordnung vorübergehend aus "technischen Gründen" aussetzt.

Das Dublin-Prinzip gilt seit 1990, der dazugehörige Rechtstext wurde seither jedoch mehrfach reformiert. Die aktuell gültig Fassung ist die sogenannte Dublin III-Verordnung, die mit 1. Jänner 2014 vorhergehende Regelungen ablöst. Sie ist für alle EU-Staaten rechtlich bindend. Bei einer Nichtbeachtung droht ein Vertragsverletzungsverfahren und in letzter Konsequenz eine Verurteilung zu Strafzahlungen durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH).

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