Brandstätters Blick: „Aufwachen!“ - Viele Rufe an die SPÖ

Brandstätters Blick: „Aufwachen!“ - Viele Rufe an die SPÖ
Sie suchen nach der Finanzierung des modernen Sozialstaats – und nach ihrer Identität.

Zwei Frauen reißen die Arme hoch, versuchen Begeisterung zu mimen, was sollen sie auch sonst tun? Bei einem internationalen Treffen von Sozialdemokraten wollen weder Andrea Nahles noch Pamela Rendi-Wagner an die Lage ihrer Parteien zu Hause denken. Die Deutsche ist wenigstens noch in der Regierung, die SPÖ-Chefin weit davon entfernt. Fast überall in Europa verzweifeln die Sozialdemokraten am mangelnden Interesse der Wähler, am internen Streit, an ideologischer Orientierungslosigkeit.

Ein altes Buch, das verblüffend aktuell wirkt, könnte helfen. Peter Glotz, der seltene Fall eines Intellektuellen, der Parteimanager wurde, hat es 1982 geschrieben. „Die BEWEGLICHKEIT des Tankers“. Da griff er zu einer Zeit, als die SPD nach fast 13 Regierungsjahren ausgelaugt und zerstritten war, die großen Themen auf. Das hat der SPD damals nichts mehr genützt, Helmut Kohl war schon dabei, FDP-Chef Hans Dietrich Genscher zur Wende zu bewegen. Aber Glotz hat prophetisch das Dilemma der Sozialdemokratie und Lösungen aufgezeigt.

Ende der Arbeiterklasse

Glotz sprach schon 1982 von der „nachindustriellen Gesellschaft“, wo „die Chance, durch Arbeit Identität zu finden, geringer wird.“ Folge: „Dem Sozialismus kommt sein Subjekt abhanden.“ „Die Zeiten, in denen die gesamte Klientel durch gemeinsame ökonomische Interessen zusammengeschweißt wurde, sind vorbei.“

Hannes Androsch war im Jahr 1982 – nach heftigem Streit mit SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky bereits vom Finanzministerium als Generaldirektor in die Creditanstalt gewechselt. Die SPÖ beschäftigt ihn aber bis heute, auch nach vielen Jahren als erfolgreicher Unternehmer. Seine Analyse ist kompromisslos: „Als Kind des Industriezeitalters ist die SPÖ zu lange bei den rauchenden Schloten hängen geblieben und noch nicht in der Plattformökonomie der rauchenden Köpfe angekommen.“ Sein Rat: Noch viel mehr auf Bildung setzen – schließlich sei die SPÖ aus den Arbeiterbildungsvereinen hervorgegangen – die Finanzierung des Sozialsystems sichern, auch durch spätere Pensionierungen, und schließlich Europa: „Die SPÖ muss sich klar zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bekennen, da waren wir zu lange Trittbrettfahrer.“

Für mehr Europa spricht sich der Strafrichter Oliver Scheiber, Chef des Bezirksgerichts Meidling, auch aus. Aber sein neues Büchlein „Sozialdemokratie: Letzter Aufruf!“ setzt schon im ersten von 10 Punkten auf „Solidarität“, und verlangt den Ausbau des Sozialstaats: „Die Sozialdemokratie verziert aktuell bloß die kapitalistischen Strukturen.“

Die Agenda 2010, mit der SPD-Kanzler Gerhard Schröder bis zu seiner Abwahl im Jahr 2005 das Sozial- und Arbeitsmarktsystem Deutschlands umgebaut hat, müsse widerrufen werden. Damals wurde die Zahl der Arbeitslosen deutlich gesenkt, allerdings entstand auch ein Billiglohnsektor, das Pensionsalter wurde sukzessive angehoben. Unter den „Hartz-IV-Gesetzen“ leidet die SPD noch heute, SPD-Chefin Andrea Nahles hat schon im Vorjahr den Abschied von Hartz-IV und ein neues Konzept für den Sozialstaat angekündigt.

Moderne Identität

Die Sozialdemokratie wird glaubhafte Vorschläge zur Finanzierung des Sozialstaats machen müssen, der international gesehen üppig ausgestattet ist. Aber die Erfolge der Rechtspopulisten zeigen ja, dass irrationale Gefühle wie ein neuer Nationalismus verfangen. Peter Glotz schrieb schon 1982, dass sich die Menschen im modernen Industrialismus eine eigene Identität suchen müssten, eine individuelle und eine gesellschaftliche. Geradezu prophetisch sein Appell an die Gesellschaft von Handys und Apps, die er damals nicht erahnen konnte: „Der Mensch darf nicht Knecht von Mechanismen sein.“

Andrea Nahles und Pamela Rendi-Wagner sind in ihren Parteien umstritten. Aber auch keiner ihrer Gegner weiß, wie aus ökonomischer Unsicherheit mehr Gerechtigkeit wird, und wie eine moder Identität aussieht.

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