Ein Pickerl verklebt die Sicht aufs große Ganze

In Spanien gehen die Massen gegen ein 65 Milliarden schweres Sparpaket auf die Straße. In Deutschland zittert die Kanzlerin dem Entscheid der Verfassungsrichter über den permanenten europäische Rettungsschirm ESM entgegen. In Österreich entzündet sich der heißeste Konflikt dieses Sommers an der Frage, ob künftig auch die Ottakringer und Währinger genauso so behandelt werden wie die Josefstädter und Erdberger. Hierzulande ist offenbar mehr in Schieflage geraten, als der Anlass gebietet, dass sich empörte Bürger von der Wiener Stadtpolitik im mehrfachen Sinn überfahren fühlen.
Im Parkpickerl-Streit geht es längst nicht mehr nur darum, ob Autofahrer auch jenseits des Gürtels zwischen 9 und 19 Uhr für maximal drei Stunden Kurzparken 1 Euro je halbe Stunde berappen müssen – und sich als Anwohner mit geplanten 140 Euro/Jahr fürs Dauerparkpickerl freikaufen können. Als Parken in der Wiener City vor nunmehr bald zwanzig Jahren am 1. Jänner 1993 erstmals gebührenpflichtig wurde, gab es auch erregte Debatten. In zehneinhalb der 23 Wiener Bezirke gehört es längst zum Alltag und spült jährlich rund 60 Millionen in die klammen Wiener Stadtkassen.
Endlich volksnah
Am Anfang der neuen großen Erregung um ein kleines Pickerl steht das neue Modewort "Direkte Demokratie". Bedrängt von Werner Faymanns erfolgreichen billigen "Eat the rich"-Feldzügen ("Reichensteuer") sucht Michael Spindelegger seit Übernahme der ÖVP-Führung im Frühjahr 2011 nach einem populären Kontrastprogramm. Jetzt glaubt er es gefunden zu haben: "Bürger an die Macht" – automatische Volksbefragung für erfolgreiche Volksbegehren inklusive. Die Wiener ÖVP macht überraschend erfolgreich die Probe aufs Exempel und sammelt 150.000 Unterschriften für eine Pickerl-Volksbefragung. Der rot-grünen Stadtregierung fällt als Antwort nicht mehr ein als eine "pure Pflanzerei" (Salzburgs SP-Bürgermeister Heinz Schaden): Den Pickerl-Plan durchziehen, ein paar Monate Gras drüberwachsen lassen und dann abstimmen. Die einst lebendig begrabene und jetzt wieder auferstandene Wiener ÖVP kann es sich nun aussuchen, gegen wen sie abwechselnd wettert – gegen die Grünen als "Verräter an der Bürgerbewegung" oder die Roten als "sture Stalinisten".
Lange gesucht, endlich gefunden, koste es, was es wolle? Den Zauberstab, der ihnen im rot-grünen Wien einen Etappensieg bescherte, geben die Schwarzen jetzt erst recht nicht mehr aus der Hand. Blüht uns eine Kehrtwende der ÖVP von der staatstragenden Partei zum eifrigsten neuen Mitglied im Verein der Freunde des Populismus? Die erfolgreichsten Kampagnisierer "Im Namen des Volkes" waren bisher die skrupellosen Blauen und der immer mehr enthemmte Boulevard.
Politiker sind zum Regieren da und Bürger sollen so oft als möglich die Wahl haben. Aber wenn der Populismus regiert und die Politiker nur noch wählerisch nach populistischen Themen suchen, ist Feuer am Dach.
Am Freita waren es 140 Euro fürs Parkpickerl, sind es morgen die ESM-Milliarden für die Griechen und Spanier?
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