Deutschlands Präsident Wulff tritt zurück

Um 11.02 Uhr betrat Christian Wulff – wie bei allen öffentlichen Amtshandlungen begleitet von seiner Frau Bettina – den Saal im Schloss Bellevue. Mehr als 100 Journalisten hatten sich im Amtssitz des Bundespräsidenten versammelt, um die schon zuvor durchgesickerte Entscheidung zum Rücktritt aus dem Mund Christian Wulffs zu hören – und ihn zu beobachten.
Ohne sichtbare Emotion sprach Wulff die ihm in seiner Amtszeit wichtigen Themen vom „Zusammenhalt der Gesellschaft“ inklusive der Migranten an. Und er bedauerte, daran „nicht mehr weiterarbeiten zu können: Der Bundespräsident braucht nicht nur eine Mehrheit, sondern eine breite Mehrheit der Bundesbürger. Nach den Ereignissen der letzten Wochen ist es mir nicht mehr möglich, das Amt auszuüben.“
„Verletzt“

„Ich habe Fehler gemacht, aber ich war immer aufrichtig“, lautete der persönliche Kernsatz der vier Minuten. „Die Berichterstattung, die wir erlebt haben, hat meine Frau und mich verletzt.“ Er lobte Bettinas Rolle als „Repräsentantin eines modernen Deutschland“. Dabei wird die Ehefrau des Bundespräsidenten im Grundgesetz mit keinem Wort erwähnt. Nicht nur wegen ihrer Dauerpräsenz bei allen öffentlichen Auftritten Wulffs, auch aufgrund der Recherchen gilt sie manchen Medien als treibende Figur hinter seiner Nähe zu reichen Gönnern.
Wulff, seit dem Beginn der Affären sichtlich schmäler und grauer geworden, nahm kein Wort der Entschuldigung in den Mund. Er sei überzeugt, dass die Untersuchungen der Staatsanwälte „meine Unschuld bestätigen“.
Mit 598 Tagen war seine Amtszeit die kürzeste aller zehn Bundespräsidenten. Sie war nicht geprägt von großen Themen, wie Wulff es erhofft hatte. Aufsehen erregte er mit seiner Feststellung, dass „der Islam Deutschland so geprägt hat wie die anderen Religionen“. Das wurde überwiegend als historisch fragwürdig und als Anbiederung an die Linke verstanden, die ihn nicht gewählt hatte. Im Ausland war sein Ansehen positiver.
Wulff zeigte allerdings das, was eines der parteiinternen Hauptargumente von CDU-Chefin Angela Merkel für seine Auswahl gewesen war: die Nervenstärke eines Berufspolitikers. Der völlig unerwartete Rücktritt von Vorgänger Host Köhler aus nichtigem Grund hatte nicht nur Merkel gezeigt, dass sich der erste Versuch eines verdienstvollen politischen Amateurs an der Spitze des Staates nicht bewährt hatte. So wie der 52-jährige Wulff seit Mitte Dezember die immer neuen Vorwürfe auszusitzen versuchte, wurde er dieser Erwartung gerecht – so lange es irgendwie ging.
Sorgen
Wulff und seine zweite Frau Bettina wurden anfangs als erfrischend für das höchste Staatsamt gewürdigt. Ihr gemeinsamer Sohn war mit einem Jahr das jüngste Familienmitglied, das je ins Schloss Bellevue einzog. Mit dem Ausschlachten der bunten Bilder davon in der Boulevardpresse hatte Wulff kurz vor dem Auftauchen der ersten Vorwürfe an die hohen Zustimmungswerte seiner Vorgänger aufgeschlossen. Damit war seine demütigende neunstündigen Wahl, die er mit dem knappsten Ergebnis bisher gewonnen hatte, vergessen.
Offen ist nun Wulffs finanzielle Zukunft: Die lebenslange Präsidenten-Pension von 200.000 Euro jährlich inklusive Dienstwagen und Sekretärin gibt es nur bei „politischem Rücktritt“. Und der ist bei Wulff vorläufig fraglich. Dass auch noch große Anwaltskosten und sonstige Schulden auf ihn zukommen, muss ihn nun auf seine Ministerpräsidenten-Pension hoffen lassen. Die gibt es erst ab dem 60.Geburtstag.
30 Tage Zeit: Suche nach einem untadeligen Nachfolger

Wulffs Rücktritt war noch nicht offiziell, da war das Feilschen um seinen Nachfolger schon voll im Gange. Nur 25 Minuten nach der Erklärung des Bundespräsidenten kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel an: „Wir wollen Gespräche mit dem Ziel, in dieser Situation einen gemeinsamen Kandidaten vorschlagen zu können.“ Zuvor hatte sie Wulffs Amtszeit pflichtschuldig ge-würdigt. Einen Blitzbesuch in Rom sagte Merkel kurzfristig ab.
Vorerst übernimmt CSU-Chef Horst Seehofer als amtierender Bundesratspräsident die Aufgaben des Staatsoberhaupts. Aber schon Freitagabend nahm er mit Merkel und FDP-Chef Philipp Rösler Beratungen über die Nachfolge Wulffs auf. Sie werden wohl auch heftig mit der Opposition telefonieren. Die Spitzen von SPD und Grünen haben signalisiert, dass sie einen gemeinsamen Kandidaten nicht nur für möglich, sondern für wünschenswert halten. Das wird in der schwarz-gelben Regierungskoalition ausnahmsweise nicht als taktische Finte gewertet, sondern als Wunsch, das Elend an der Staatsspitze möglichst rasch zu beenden.
Ohnehin drängt die Vorgabe der Verfassung, die innerhalb von 30 Tagen die Wahl des Alt-Bundespräsident Christian Wulff und Gattin Bettina: Das erste selbst gemachte Glamour-Paar in Schloss Bellevue steht vor den Trümmern seiner politischen Existenz Nachfolgers vorschreibt. Schon wird über den 18. März als Wahltag in der Bundesversammlung gesprochen.
Das Bekenntnis zu einer gemeinsamen Lösung hält die Parteien aber nicht von Machtspielen ab: Die in den Umfragen auf zwei Prozent geschrumpften Liberalen bestehen auf einem Kandidaten aus dem schwarz-gelben Lager, auch wenn ihr Gewicht bei der Kanzlerin inzwischen gegen null tendiert.
Aber auch in der Union will man trotz zweier verunglückter Anläufe mit Köhler und Wulff das Gesicht wahren. Damit scheiden vor allem Kandidaten aus, die sich ideologisch bisher als Propagandisten rhetorisch linker Moral engagierten.
Die Kandidaten-Liste der Koalition ist mittellang: Finanzminister Wolfgang Schäuble steht hoch im Kurs. Er hat aber in der FDP Gegner und gilt in der Euro-Krise als schwer ersetzbar. Auch CDU-Bundestagspräsident Norbert Lammert würde das Amt gerne ausfüllen, er hat sich schon bisher als Fast-Staatsoberhaupt geriert. Gut im Rennen ist der ehemalige Umweltminister und UN-Funktionär Klaus Töpfer.
Der einstige DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck, parteiloser Kandidat von SPD und Grünen 2010, bat am Freitag überraschend um Bedenkzeit.
Nicht unplausibel wäre der Konsens, eine Frau zur ersten Bundespräsidentin zu machen: Dann gilt Arbeitsministerin Ursula von der Leyen als CDU-Favoritin. Die Grüne Katrin Göring-Eckhart, Bundestags-Vizepräsidentin und Vertreterin des linken Lagers in der Dachorganisation Deutscher Christen, gilt als Joker, wenn Merkel Signale für Schwarz-Grün 2013 setzen wollte.
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