Zwischen Resignation und Zorn: Planlos in den Brexit
Knapp drei Monate nach dem Referendum zu Großbritanniens EU-Austritt gibt die durch die Mitte gespaltene britische Seele ein überraschendes Bild ab: Während viele Pro-Europäer bereits alle Phasen der Trauer von Verleugnung über Zorn bis hin zur zähneknirschenden Akzeptanz durchlaufen haben, stecken nun die EU-Gegner im gleichen Zyklus.
Während der Sommermonate sorgten vom gesunkenen Pfund angezogene Touristen und spendierfreudige Briten für einen kleinen Konsumaufschwung, der die Medien optimistisch stimmte: Die Boulevard-Zeitung The Sun schrieb gleich von einem positiven "Brexit Bounce" für die Wirtschaft, der die Warnungen der Experten Lügen strafe.
Brexit-Kampagne zerfallen
Die Tatsache, dass dieser scheinbare Boom immer noch innerhalb der EU stattfindet, wurde dabei ebenso nonchalant übergangen wie die Prognosen der Handelskammer, die auf die schwächste Wirtschaftsleistung seit der globalen Krise 2009 hindeuten.
Davon unbeirrt schwärmte erst diese Woche wieder Staubsaugerfabrikant James Dyson von einer kommenden "Befreiung" für die britische Wirtschaft, selbst wenn der Zugang zum EU-Binnenmarkt verloren ginge.
Auch die nach ihrem überraschenden Sieg in alle Windrichtungen verstreute Brexit-Kampagne hat sich sich nun unter dem Slogan "Change Britain" wieder neu zusammengefunden. Ihre Forderung nach einem raschen Start des Austrittsprozesses verbindet die von der Labour-Abgeordneten Gisela Stuart angeführte, überparteiliche Gruppe mit allerhand Versprechungen. Ersparnisse durch einen Wegfall von EU-Mitgliedsbeiträgen sollen die Ausfälle der EU-Förderungen für Landwirtschaft, Forschung, Universitäten und ökonomisch schwache Regionen ersetzen.
Dass das prognostizierte Wachstum von gerade einmal einem Prozent alle mutmaßlichen Ersparnisse durch den Brexit ausradieren würde, ist offenbar nicht von Belang. Nach dem Referendum ist ganz wie vor dem Referendum. Selbst Außenminister Boris Johnson und Michael Gove, sein Partner und zuletzt Widersacher im großen Intrigenspiel Ende Juni, finden sich bei "Change Britain" auf der gleichen Plattform wieder. Immerhin spricht aber heute auch kein Brexit-Begeisterter mehr von 410 Millionen Euro Wochenbonus für das britische Gesundheitssystem, mit dem man für den Austritt geworben hatte.
Angst vor Zorn und offener Gewalt
Der bitteren Einsicht in die ökonomische Realität des Brexit könnte bald offene Wut folgen. Auf den Straßen Großbritanniens sind davon vor allem osteuropäische Einwanderer betroffen. Nach dem fremdenfeindlich motivierten Mord an einem polnischen Arbeiter in Essex wurden noch während des Gedenkmarsches für das Opfer zwei weitere Polen schwer verletzt. Ein von Jugendlichen in Leeds blutig geschlagener Pole stolperte auf der Flucht vor seinen Peinigern in den Vorgarten einer Landsmännin. Währen die verängstigte Polin das Erlebnis einem TV-Sender schilderte, wurde sie aus einem vorbeifahrenden Auto als "verdammte polnische Verräterin" beschimpft.
Die Polizei hat dennoch beschlossen, ihre wöchentlichen Statistiken über den Anstieg fremdenfeindlicher Gewalt einzustellen. Die weiterhin dramatischen Zuwachsraten werden als Normalisierung der Lage präsentiert.
Die fremdenfeindliche Rhetorik in der Politik wird jedenfalls kaum abnehmen, wurde am Freitag doch die Europa-Abgeordnete Diane James der EU-feindlichen, rechtspopulistischen UKIP zur Nachfolgerin des zurückgetretenen Parteichefs Nigel Farage gewählt. In ihrem Wahlkampf im Wahlkreis Eastleigh hatte James einen temporären Einwanderungsstopp gefordert, um so "mit Rumänen assoziiertes Verbrechen" zu bekämpfen.
Der von der Regierung als Faustpfand für die Austrittsverhandlungen verwendete, rechtliche Status von EU-Bürgern in Großbritannien ist indessen immer noch unklar. Der führende Experte für Einwanderungsrecht, Alan Vaughan Lowe, erklärte letzte Woche vor dem House of Lords, es gebe "eine Chance von null Prozent", dass die drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien nach dem Brexit dieselben Rechte auf Aufenthalt, Gesundheits- und Pensionsversorgung behalten könnten. Das sei ein Preis, den diese Gruppe, sowie die 1,3 Millionen in der EU lebenden Briten für das Nein zur EU zu zahlen hätten. Man müsse sich Formen der Kompensation überlegen. Seine größte Sorge aber sei, so Vaughan Lowe, dass es auf Regierungsebene "nur wenig Hinweis darauf gibt, dass diese Leute wissen, was sie tun wollen."
Wenigstens David Davis, Staatssekretär für den EU-Austritt, schwenkt langsam von Verleugnung auf ernsthafte Vorbereitung für Verhandlungen mit der EU um: Seine Rechtsberater hätten völlig gegenteilige Einschätzungen geliefert, auf jeden Fall stehe eine "frustrierende Zeit" bevor. "Es könnten die schwierigsten Verhandlungen aller Zeiten werden", warnte der einst so optimistische Brexit-Wortführer. Manches Diplomaten-Meisterstück aus der Geschichte sei dagegen"eine Maturantenfrage".
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