Ost-Aleppo soll noch heute komplett evakuiert werden

Bewaffnete Männer fahren auf einem Pickup durch eine zerstörte Stadt, während Zivilisten zu Fuß unterwegs sind.
Rebellen in Aleppo geben auf – schwere Vorwürfe seitens der UNO gegen syrische Truppen.

Die Kampfhandlungen im Osten der syrischen Metropole Aleppo sind nach Aussage des russischen UN-Botschafters Witali Tschurkin beendet. Das syrische Militär habe seine Einsätze gestoppt, um den bewaffneten Aufständischen und ihren Familien die Flucht aus der Stadt zu ermöglichen, sagte Tschurkin am Dienstag am UN-Sitz in New York.

Das Gebiet der Rebellen in der umkämpften Großstadt Aleppo wird nach Angaben der wichtigsten Aufständischen-Gruppe in Kürze vollständig evakuiert. "Jeder" werde Ost-Aleppo noch in der Nacht verlassen, teilte ein Sprecher der Gruppe Ahrar al-Sham am Dienstag mit.

Bild kompletten Totalversagens

Den Appellen auf internationaler Ebene stehen die Hilferufe aus Kellerlöchern in Aleppo gegenüber. Seit Beginn der Belagerung Ost-Aleppos hat sich kaum etwas verändert in der diplomatischen Wortwahl. Menschenrechte müssten gewahrt, humanitärer Zugang gewährt werden. Was sich aber derzeit zusammenfügt ist das Bild kompletten Totalversagens auf internationaler Ebene im Angesicht eines offensichtlichen Beschlusses seitens des Regimes in Damaskus und seiner Alliierten, Ost-Aleppo ohne jegliche Rücksicht auf zivile Verluste zurückzuerobern. Genau das ist jetzt geschehen – allen Aufrufen, zu einer politischen Lösung zu gelangen, zum Trotz. Am Dienstag Abend einigten sich Rebellen und Regierungstruppen schließlich auf ein Abkommen über den Abzug aus Aleppo bei freiem Geleit.

Eine Frau hilft einem weinenden Mann durch die Trümmer eines zerstörten Gebäudes.
AFP PICTURES OF THE YEAR 2016 People walk amid the rubble of destroyed buildings following a reported air strike on the rebel-held neighbourhood of al-Kalasa in the northern Syrian city of Aleppo, on April 28, 2016. The death toll from an upsurge of fighting in Syria's second city Aleppo rose despite a plea by the UN envoy for the warring sides to respect a February ceasefire. / AFP PHOTO / AMEER ALHALBI

Die syrische Armee feierte in der Nacht auf Dienstag bereits den Sieg. Aus den allerletzten Widerstandsnestern im Osten der Stadt drangen zeitgleich verzweifelte Hilferufe. „Leger“ habe sich die Welt von den Menschen in Aleppo abgewandt, so der Fotograf Ameen Al-Halabi auf facebook. Das seien jedenfalls unsere letzten Momente, schreibt er. Seinen Beitrag schließt er mit den Worten: „Vielleicht ist es Zeit, auf Wiedersehen zu sagen.“ Andere beschrieben auf twitter das Vorrücken der Armee als Schlachten von Haus zu Haus. Die allermeisten nahmen Abschied – unter Tränen, mit zittrigen Stimmen untermalt von Maschinengewehrfeuer und Explosionen. Einer, ein Bursche um die 20, gibt den Rat, nur ja nicht auf die internationale Gemeinschaft zu zählen und äußert die Hoffnung, dass Menschen einmal als freie Menschen leben würden – er schließt mit den Worten, dass er das wohl nicht mehr erleben werde. Bevor er die Kamera abschaltet ein lauter Seufzer.

Die Syrische Bobachtungsstelle für Menschenrechte, eine Oppositions-nahe Monitoringgruppe, berichtete von apokalyptischen Szenarien: Leichen lägen auf den Straßen. Darunter viele Zivilisten.

Männer tragen Babys durch eine zerstörte Stadt.
AFP PICTURES OF THE YEAR 2016 Syrian men carrying babies make their way through the rubble of destroyed buildings following a reported air strike on the rebel-held Salihin neighbourhood of the northern city of Aleppo, on September 11, 2016. Air strikes have killed dozens in rebel-held parts of Syria as the opposition considers whether to join a US-Russia truce deal due to take effect on September 12. / AFP PHOTO / AMEER ALHALBI

Der Sprecher des UN-Menschenrechtsbüros, Rupert Colville, verlas indes in Genf mit leicht zittriger Stimme eine Botschaft: Es gebe glaubhafte Hinweise, dass in vier Gebieten Aleppos 82 Zivilisten auf der Stelle erschossen worden seien. Regierungstruppen seien in Häuser eingedrungen und hätten wahllos Zivilisten erschossen. Man sei demnach „erfüllt mit den düstersten Vorahnungen für jene, die in den letzten Höllenwinkeln“ Ost-Aleppos ausharrten. Was sich derzeit in Aleppo abspiele sehe aus wie der komplette „Zusammenbruch der Humanität“.

Bereits in den vergangenen Tagen hatte es immer wieder Meldungen gegeben, überwiegend männliche Flüchtlinge aus Ost-Aleppo seien von den syrischen Geheimdiensten gleich nach der Ankuft im Westen der Stadt von ihren Familien getrennt und veschleppt worden. Auch von Erschießungen wurde berichtet. Der schwedische UN-Diplomat Jan Egeland hatte davon gesprochen. Moskau hatte daraufhin gemeint, derlei Kriegsverbrechen würden von "Terroristen“ begangen, nicht aber von der Armee.

Das zynische Gerangel auf diplomatischer Ebene geht also weiter – bei allen Verbrechen, derer sich auch die Rebellen in der Stadt schuldig gemacht haben. Der größte Verlierer aber in dieser Schlacht aber ist die Humanität. Alle Rufe nach humanitären Waffenruhen, Korridoren, politischen Lösungen seitens Diplomaten, Menschenrechtlern, humanitären Helfern sind ergebnislos verhallt. Die UNO konnte sich dank russischem Veto zu keinerlei Beschluss durchringen.

Porträt eines Mannes mit grauem Bart und Sakko vor blauem Hintergrund.
Yezid Sayigh, Carnegie, Syrien, Libanon
„Diplomatie“, so Yezid Sayigh vom Carnegie-Center, „ist seit Beginn des Krieges eine Formalität geblieben“. Eine ohne Leben, wie er betont. Echte Versuche, den Konflikt politisch zu lösen, habe es nie gegeben. Dass sich daran nun etwas ändern werde, glaubt er nicht.

Die Frage bleibt jetzt nur, ob die Kriegsverbrechen, die in Aleppo begangen wurden (Streumunition in dicht besiedeltem Gebiet, Flächenbombardements, Einsatz von Brandbomben und angeblich auch Giftgas) jemals geahndet, ob Lehren aus diesem Massaker gezogen werden oder ob das Kapitel Aleppo stillschweigend geschlossen und dem Vergessen überlassen wird. Was in Zusammenhang mit diesem Massaker niemand jemals wird behaupten können ist, dass man auf politischer Ebene von den Ereignissen überrollt worden wäre. Die Katastrophe in Aleppo hatte sich über Jahre angekündigt. Man ist sehenden Auges in sie hinein gegangen.

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