Reaktionen zum Brexit: "Jeder Tag ein Schicksalstag"

BRITAIN-EU-POLITICS-BREXIT
Auch am Montag konnte das britische Parlament sich auf keine Option zum Umgang mit dem EU-Austritt einigen.

Die britische Regierung ist am Dienstag zu Krisenberatungen über einen Ausweg aus der Brexit-Sackgasse zusammengekommen. Geplant ist eine längere Kabinettssitzung bis in den Nachmittag hinein in unterschiedlicher Besetzung. Am Montagabend hatte das Parlament bei einer Abstimmung über Alternativen zu Mays Brexit-Abkommen erneut keine Einigung erzielt.

Der EU-Brexit-Chefverhandler Michel Barnier hat am Dienstag vor dem Europaparlament bekräftigt, dass er ein "No Deal"-Szenario mit Großbritannien für wahrscheinlich hält. "In der heutigen Situation ist die Option eines No Deals doch eine Wahrscheinlichkeit. Wir haben uns darauf eingestellt", sagte Barnier. Barnier hält einen harten Bruch nächste Woche noch für vermeidbar. "Ein No-Deal-Szenario ist wahrscheinlicher geworden, aber wir können es noch verhindern", sagte Barnier am Dienstag in Brüssel. Für einen geregelten EU-Ausstieg müsse das britische Parlament aber den bereits ausgehandelten Austrittsvertrag verabschieden. "Wenn Großbritannien die EU immer noch auf geordnete Art und Weise verlassen will, ist und bleibt diese Vereinbarung die einzige", sagte Barnier. "Der einzige Weg, einen No-Deal zu vermeiden, wird ein positives Votum sein."

Geschehe dies noch vor dem EU-Sondergipfel am 10. April, könne er sich eine weitere kurze Verschiebung vorstellen - auch wenn dies in der Hand der Staats- und Regierungschef liege. Stimme das Unterhaus jedoch in den nächsten Tagen nicht mehr zu, blieben nur zwei Optionen: ein EU-Austritt ohne Vertrag, den das Unterhaus erklärtermaßen nicht wolle, oder eine lange Verschiebung des Brexits. Da dieser für die EU große politische Risiken berge, müsste Großbritannien dafür aber eine sehr gute Begründung liefern.

Dieselben Fragen bleiben auch bei No-Deal am Tisch

Die EU will auf die Klärung offener Fragen beim Brexit auch im Fall eines "No Deal"-Szenarios beharren. Wenn es nicht zu einer Einigung komme, sei aber die Atmosphäre eine andere, sagte Barnier am Dienstag vor dem Europaparlament. "Ein No Deal ist ein Vertrauensbruch."  Auch bei einem ungeordneten, harten Brexit würde es nicht lange dauern, bis Großbritannien um Verhandlungen mit der EU zu Handel, Verkehr und anderen Themen ansuchen würde, sagte Barnier.

Die offenen Fragen, die eigentlich im Austrittsvertrag geregelt werden sollten wie die Irland-Grenze, Brexit-Schlussabrechnung in Höhe von rund 39 Milliarden Pfund (45,44 Milliarden Euro) und die Rechte der EU-Bürger würden dann wieder ins Spiel kommen. "Diese Fragen werden wir dann wieder auf den Tisch legen", sagte Barnier.

"Nähern und gefährlich einem Brexit ohne Abkommen"

Angesichts der Blockade im britischen Parlament hält der französische Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire einen britischen EU-Austritt ohne Deal für wahrscheinlicher. "Die jüngsten Ereignisse, vor allem die gestrige Abstimmung im britischen Parlament, nähern uns gefährlich einem Brexit ohne Abkommen an", sagte Le Maire am Dienstag in Paris. Der Brexit zeige generell, dass das Unwahrscheinliche möglich sei. Das britische Unterhaus hatte am Montag alle vier zur Abstimmung stehenden Brexit-Vorschläge abgeschmettert. Es hatte zuvor bereits drei Mal gegen das EU-Austrittsabkommen gestimmt. Das Kabinett sucht nun in London in einer Marathon-Sitzung nach einem Ausweg aus dem Brexit-Chaos.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat Großbritannien aufgefordert, "auch einmal Ja zu sagen". Auf Twitter sagte Kurz, "erneut hat das britische Unerhaus zu allen Optionen Nein gesagt. Es wäre nun aber dringend an der Zeit, auch einmal Ja zu sagen". Der Kanzler betonte, "wir brauchen rasch Klarheit von Großbritannien, wie es nun weitergehen soll, um noch einen hard Brexit zu vermeiden".

"Tag des Jüngsten Gerichts"

Der britische Kabinettssekretär Mark Sedwill hat ein düsteres Bild für sein Land im Fall eines sich immer mehr abzeichnenden "No Deal" gezeichnet. Wie "Daily Mail" berichtete, werden laut Sedwill die Nahrungsmittelpreise dann um zehn Prozent steigen. Die Polizei werde nicht in der Lage sein, die Öffentlichkeit zu schützen. Und es werde zur schlimmsten Rezession seit 2008 kommen. Das Blatt berichtete von einem Brief mit dem Titel "Tag des Jüngsten Gerichts" an die Regierung

Der britische Finanzminister Philip Hammond wird einer Twitter-Mitteilung der "Times" zufolge dem Kabinett am Dienstag mitteilen, dass die Konservativen möglicherweise ein Referendum in Betracht ziehen müssen, da sich weder die Partei noch das Land eine Wahl leisten könne. In dem Tweet eines Politikredakteurs hieß es, Hammond werde sagen, dass die Regierung einen eigenen Kompromissvorschlag machen oder zugeben müsse, dass das Parlament gescheitert sei und daher das Volk in einem Referendum abstimmen müsse.

"Mittwoch, letzte Chance"

EU-Politiker haben entsetzt auf die erneute Ablehnung aller Brexit-Optionen im britischen Unterhaus reagiert. "Ein harter Brexit wird nun fast unausweichlich", schrieb der Brexit-Beauftragte des Europaparlaments, Guy Verhofstadt, am späten Montagabend auf Twitter. "Am Mittwoch hat Großbritannien die letzte Chance, die Blockade zu durchbrechen oder in den Abgrund zu blicken."

Der SPD-Europapolitiker Jens Geier sprach von einer "inzwischen lächerlichen Selbstblockade im britischen Parlament" und forderte: "Einer Verlängerung der EU-Mitgliedschaft über den 12. April hinaus kann die Europäische Union nur mit der gleichzeitigen Ansage eines zweiten Referendums stattgeben." Das übrige politische Europa betrachte den Machtkampf in London "inzwischen überwiegend gelangweilt", meinte Geier.

Pressestimmen

Zum Brexit-Streit in Großbritannien meint der Londoner Guardian am Dienstag:

"Theresa May hat versucht, beide Flügel (in ihrer Partei) mit ihrem Brexit-Deal zusammenzuhalten. Dreimal gelang es jedoch nicht, genügend ihrer eigenen Abgeordneten zu überzeugen; auf beiden Seiten gab es Widerstand. Anstatt das EU-Referendum (von 2016) als einen Fehler anzusehen, der sich mit Hilfe kluger Ratschläge und vernünftiger Debatten beheben lässt, haben sich viele Konservative völlig irrational verhalten. Es scheint keine Limits für das zu geben, was die Fanatiker vom Rest der Welt an Entgegenkommen für Brexit-Großbritannien erwarten. In ihrer Vorstellung werden die Nationen Schlange stehen, um uns Handelsvorteile sowie den Zugang zu ihren Markten zu geben und dabei auf den instinktiven Schutz ihrer eigenen Industrie zugunsten Großbritanniens verzichten. Dieses märchenhafte Denken hat Tory-Abgeordnete dazu verleitet, unerfüllbaren Träumen nachzujagen."

Die konservative schwedische Tageszeitung Svenska Dagbladet (Stockholm) meint am Dienstag zum Stand des Brexits:

"In den vergangenen Wochen ist im Grunde jeder Tag im Unterhaus ein Schicksalstag gewesen. Die Autorität der Regierung ist pulverisiert worden. Das Parlament konnte sich bislang nur darauf einigen, Nein zu sagen. Der EU-Austritt sollte am 29. März passiert sein, auch Tage danach gibt es weiter keine Lösung. Die Alternativen, die die meisten Anhänger, aber bei Weitem keine Mehrheit hinter sich vereinen, sind ein neues Referendum oder eine Art von Gewährleistung, dass Großbritannien in einer Zollunion verbleibt. Beide Alternativen sind natürlich risikoreich. Gleichzeitig öffnen sie Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Schadensminimierung. Aus Sicht der EU will man Großbritannien natürlich als Mitglied behalten. Auch wenn der Appetit auf neue Vertreter der Ukip im Europaparlament vielleicht nicht ganz so groß ist."

Kommentare