Pressestimmen: "Rationales Bollwerk gegen radikales Deutschland"

Pressestimmen: "Rationales Bollwerk gegen radikales Deutschland"
Sowohl linke, als auch konservative Medien bewerten die Wahl der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als durchaus positiv.

Im Großen und Ganzen greift die normative Kraft des Faktischen: Ursula von der Leyen ist neue Kommissionspräsidentin, dementsprechend gesteht ihr die Presse gewisse Vorschusslorbeeren zu. Kritik kommt vor allem aus Osteuropa und Großbritannien.

Deutschland: "Sie passt zu Europa und Europa passt zu ihr"

Welt, Berlin (Deutschland): "Von der Leyen ist für Merkel wesentlich unangenehmer, da mögen sich die beiden Frauen noch so gut kennen und verstehen. Sie stellt nun die Kanzlerin in den Schatten. Das dürfte sich auch nicht mehr ändern, weil Merkels Regierungszeit jederzeit zu Ende sein kann und nahezu sicher ist, dass von der Leyen sie politisch überleben wird."

taz, Berlin (Deutschland): "Nach ihren klaren Worten etwa zur Geschlechtergerechtigkeit bei ihrer Rede am Dienstag sieht es so aus, als dürften sich illiberale Kräfte in Ungarn, Polen und Tschechien noch wundern. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob von der Leyen im Rat ein entsprechendes Gewicht hat."

Bild, Berlin (Deutschland): "Ursula von der Leyen hat im wichtigsten Moment ihrer politischen Karriere die Rede ihres Lebens gehalten. Eine Rede, die für alles steht, was Europa ausmacht. Fließend vielsprachig, international, großzügig, verwurzelt in festen Werten. Streng und klar mit jenen, die sich gegen diese Werte wenden. Man spürte: Sie passt zu Europa und Europa passt zu ihr."

Badisches Tagblatt, Baden-Baden (Deutschland): "Sie hat jedem etwas versprochen, insbesondere Grüne und Sozialdemokraten umgarnt, weil es auf ihre Stimmen ankam. Doch keiner ihrer Vorschläge lässt sich so einfach umsetzen."

Neue Zürcher Zeitung, Zürich (Schweiz): "Sie ist eine in der Wolle gefärbte Europäerin und wurde wohlwollend auch schon als "postnationale Deutsche" bezeichnet. Davon zeugen ihre weltläufige Biografie, aber auch ihre kulturelle und gesellschaftliche Gewandtheit, die sie in verschiedensten Umgebungen mit unterschiedlichen Menschen einbringen kann. Sie ist ein großes Talent, wenn es darum geht, Politik zu erklären, medial darzustellen und begreifbar zu machen. Davon kann Brüssel zweifellos profitieren. Auch wenn manchen ihr wie "ins Gesicht gemeißeltes Strahlen" auf die Nerven geht - vielleicht hellt es die verblassten europäischen Sterne etwas auf."

Süden: "EU oder Sintflut"

Le Monde, Paris (Frankreich): "Es gibt nichts, was eine politische Führungsperson, die in Ungnade zu fallen schien, daran hindert, eine unerwartete Rückkehr zum Ruhm zu genießen. Ministerin mit kritisierter Bilanz, umstrittener Redlichkeit und veränderter Popularität - diejenige, die einst als Kandidatin für die Nachfolge von (Bundeskanzlerin) Angela Merkel galt, schien auf einem Schleudersitz zu sitzen. Sie ist heute Präsidentin der Europäischen Kommission und die erste Frau, die dieses Amt innehat, das seit Walter Hallstein (1958-1967) nicht mehr von einem Deutschen besetzt war."

La Vanguardia, Barcelona (Spanien): "500 Millionen europäische Bürger erwarten Fortschritte, keine Rückschläge oder Stagnation, weil es außerhalb der Europäischen Union nur noch mächtige Blöcke gibt, die eine europäische Schwächung begrüßen würden. Es ist notwendig, die innere Einheit wiederherzustellen, die geografischen Blockaden zu beseitigen und wieder zu überzeugen: die EU oder die Sintflut."

Corriere della SeraRom (Italien): "Es ist alles wie immer geblieben. Von der Leyen wurde mit der üblichen Methode gewählt. (...) Die einzige kleine Innovation wurde abgelehnt - nämlich dem Wähler den Spitzenkandidaten bekannt zu machen. Der Eindruck bleibt, dass die Wahl ein wenig transparentes Manöver hinter verschlossenen Türen war. Paradoxerweise hat diese veraltete Methode aber ein politisches Ergebnis gebracht, der zur Stärke der Frau werden kann, die dem Luxemburger Jean-Claude Juncker folgt. 

Osten: "Rationales Bollwerk gegen radikales Deutschland"

Magyar Nemzet, Budapest (Ungarn): "Bezeichnend ist, dass die europäische Rechte die neue Kommissionspräsidentin unterstützte, Teile der Linken hingegen nicht, aber auch, dass die Stimmen für sie aus der (in Ungarn regierenden rechten) Fidesz im Endergebnis gewiss ausschlaggebend waren. Die EU in ihrer gegenwärtigen Aufstellung erlaubt auch gar nichts anderes als die Bestellung einer politisch korrekten, völlig farblosen und sterilen Kommission, mit einer Leiterin, die von Hinterzimmer-Deals mehr Ahnung hat als wir, aber umso weniger die wahren Probleme kennt."

KommersantMoskau (Russland): "Zur Außenpolitik hat sich Ursula von der Leyen praktisch gar nicht geäußert. Aber ihre Position zu Russland hat sie schon im Frühjahr 2018 formuliert. Damals sagte Frau Ursula von der Leyen in einem Interview der "Bild am Sonntag", dass der Kreml Schwäche nicht verzeiht und ein Feindbild braucht, während die "freie westliche Gesellschaft" in dieser Hinsicht kein Verlangen zeigt. Sie hat auch gesagt, dass es wichtig sei, offen zu bleiben für einen Dialog, aber dabei gleichzeitig seinen Standpunkt zu verteidigen."

Lidove noviny, Prag (Tschechien): "Wer über von der Leyen nun schon den Stab bricht, sollte berücksichtigen, dass in Deutschland bald eine Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Postkommunisten regieren könnte. Daneben würde die neue EU-Kommissionschefin wie ein rationales Bollwerk gegen ein radikales Deutschland wirken."

Beneluxländer und Dänemark: "Krieg der Institutionen"

De Volkskrant, Amsterdam (Niederlande): "Wäre sie abgelehnt worden, wäre es zu einem "Krieg der Institutionen" zwischen den Regierungschefs (die von der Leyen nominiert hatten) und dem Parlament gekommen - mit für die EU lähmenden Sommerwochen voller Krisengesprächen und einem Sonder-EU-Gipfel."

De Standaard, Brüssel (Belgien): "Wir müssen mit diesem Europa zurechtkommen. Ein anderes gibt es nicht."

Jyllands-Posten, Aarhus (Dänemark): "Ursula von der Leyen ist eine gute Wahl. Sie ist kompetent, zuverlässig und steht in der deutschen Tradition der Kunst des Kompromisses. Das kann die EU mehr denn je gebrauchen. Die Wahl von der Leyens ist eine unschöne Vorstellung gewesen. Dass sie nur mit einer knappen Mehrheit gewählt wurde, sagt weniger über sie und ihre Qualifikationen, als mehr über die tiefe Zersplitterung der EU-Länder aus."

Großbritannien: "Marionette des französischen Präsidenten"

Times, London (England): "Die Tatsache, dass sie von Angela Merkel und Emmanuel Macron installiert wurde, dürfte kaum eine Quelle der Stärke sein, sondern eher das Gegenteil. Es gibt echte Zweifel, ob sie genügend politischen Charakter und Mut hat, europäische Politik zu gestalten, oder nicht einfach nur eine Marionette des französischen Präsidenten und der deutschen Kanzlerin sein wird, die sie zu dem gemacht haben, was sie ist."
 

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