Ukrainische Armee in Alarmbereitschaft
Die Ukraine hat ihre Armee in einen "totalen Alarmzustand" versetzt, die Streitkräfte seinen in "voller Kampfbereitschaft". Das teilte Übergangspräsident Alexander Turtschinow in Kiew mit. Bei einer Kabinettssitzung sagte Turtschinow, die Bedrohung durch einen von Russland angezettelten Krieg gegen die Ukraine sei real. Die ukrainische Streitkräfte wappneten sich gegen eine mögliche Invasion der an der Grenze zusammengezogenen russischen Truppen. Turtschinow sagte weiter, "oberstes Ziel" der Regierung sei es, dass sich "der Terrorismus" nicht von den östlichen Regionen Donezk und Lugansk (Luhansk) auf den Rest des Landes weiter ausdehne. "Wir haben uns entschlossen, vor Ort Milizen zu gründen, die aus Freiwilligen aus jeder Region bestehen", sagte der Übergangspräsident.
Separatisten im Osten
Die nach Moskau geneigten Separatisten in der Ostukraine weiten ihren Einfluss indes aus: Sie haben am Mittwoch weitere Regierungsgebäude besetzt, dieses Mal in Horliwka. In der Stadt nördlich von Donezk hätten sie praktisch ohne Widerstand der Polizei Einrichtungen und Verwaltungsgebäude übernommen, meldete Reuters.
Am Vortag hatte es auch Ausschreitungen in anderen ukrainischen Städten gegeben: Hunderte Gegner der Regierung in Kiew stürmten am Dienstag den Sitz des Gouverneurs in Lugansk. Am späten Nachmittag eröffneten Bewaffnete aus automatischen Waffen das Feuer auf das Polizeihauptquartier in der 400.000-Einwohner-Stadt, wo Separatisten bereits seit Wochen ein Gebäude des Geheimdienstes SBU besetzt halten. Die Polizisten verließen am Abend das Gebäude, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP beobachtete. Am Abend gelang es hingegen ukrainischen Polizisten in einer sogenannten Anti-Terror-Aktion, zwei Straßensperren der prorussischen Kräfte im Landkreis Slawjansk zu räumen.
Auch in Kiew kam es auch zu Gewalt:Am Unabhängigkeitsplatz geriet ein Marsch von Nationalisten außer Kontrolle. Mitglieder der Gruppe "Selbstverteidigung des Maidan" seien mit den Marschierenden gewaltsam aneinander geraten. Laut russischen Medien seien auch Schüsse gefallen.
Hoffnung auf Freilassung
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte indes am Dienstagabend ein Machtwort gesprochen: Er machte dahingehend Druck, die von Separatisten in der Ostukraine festgehaltenen Militärbeobachter der OSZE freizulassen - obwohl Moskau nach eigenen Worten keinerlei Einfluss auf die Aktivisten hat. Er hege "Hoffnung", dass die Gruppe die Region ungehindert verlassen könne, so Putin. Die westlichen Geiseln sollten ohne Bedingungen frei kommen.
Der selbst ernannte Bürgermeister der Stadt Slawjansk, Wjatscheslaw Ponomarjow, dürfte sich beugen: "Es sieht danach aus, dass es eine baldige Freilassung geben kann, ohne einen Geiselaustausch", sagte er der Bild-Zeitung. Ponomarjow hatte zuvor noch die am Montag beschlossenen Sanktionen zum Anlass genommen, die Militärbeobachter als Pfand zu betrachten: Die Freilassung hatte er von der Aufhebung der EU-Sanktionen abhängig gemacht. Ponomarjow war es auch, der die westlichen Geiseln der Öffentlichkeit präsentiert hatte.
Die OSZE-Beobachter, unter ihnen vier deutsche, waren am Freitag von den Separatisten gefangengenommen und später von ihren Geiselnehmern zu „Kriegsgefangenen“ erklärt worden. In Wien, am Sitz der OSZE, findet am Mittwoch erneut ein Sondertreffen des Ständigen Rates statt, bei dem über die Lage in der Ukraine und die festgehaltenen Militärbeobachter beraten werden soll.
Merkel droht Russland mit weiteren Sanktionen
Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel hat Russland im Ukraine-Konflikt mit weiteren Sanktionen gedroht. Bei einem Treffen mit dem japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe am Mittwoch in Berlin legte Merkel großen Wert darauf, dass die Wahl eines neuen Präsidenten in der Ukraine wie geplant am 25. Mai stattfinden kann.
Kurz in Kiew
ÖVP-Außenminister Sebastian Kurz ist in seiner Funktion als Vorsitzender des Europarates in die Ukraine gereist. Bei einem Treffen mit seinem ukrainischen Amtskollegen Andrej Deschtschiza, Präsidentschaftskandidat Petro Poroschenko sowie Ministerpräsident Arseni Jazenjuk ging es vorrangig um die Verfassungsreform und Möglichkeiten der Deeskalation im Osten des Landes.
Begleitet wurde Kurz vom Generalsekretär des Europarates, Thorbjörn Jagland. Gemeinsam boten Kurz und Jagland der Regierung in Kiew Unterstützung und Expertise des Europarates an. Im Mittelpunkt der Gespräche seien vor allem die Verfassungsreform, die laut Außenministerium "möglichst inklusiv" sein soll, die Deeskalation im Osten, Minderheitenschutz sowie die für 25. Mai geplanten Präsidentschaftswahlen. Außerdem habe der Besuch der Vorbereitung der Sitzung des Ministerkomitees des Europarates kommende Woche in Wien gedient. Dabei werden bis zu 30 Außenminister der insgesamt 47 Mitgliedsländer erwartet, wie die APA vom Europarat erfuhr.
Am Nachmittag trafen Jagland und Kurz, die ihren letzten Kiew-Besuch am 10. März absolvierten, neben Jazenjuk und dem Oppositionspolitiker Vitali Klitschko auch auf die Gouverneure der Oblaste (Verwaltungseinheiten) Charkiw (Charkow), Donezk und Odessa, wo in den vergangenen Tagen pro-russische Kräfte aktiv geworden waren. Um die Lage in der Krisenregion zu deeskalieren, ist nach Angaben des Ministeriumssprechers die Einhaltung des Genfer Abkommens, das die Entwaffnung aller illegaler Gruppen sowie die Räumung besetzter Gebäude vorsieht, unerlässlich. Das am 17. April erzielte Abkommen wird von Russland und der Ukraine unterschiedlich ausgelegt. Thematisiert wurden auch die Verhandlungen über die Freilassung der sieben Militärbeobachter der OSZE.
Putin bald auf der Krim
Russlands Präsident wird Medienberichten zufolge zum Jahrestag zum Ende des Zweiten Weltkriegs erstmals die annektierte ukrainische Halbinsel Krim besuchen. Die Zeitung Kommersant und die Nachrichtenseite Gazeta.ru berichteten am Mittwoch, Putin könnte an der zum Jahrestag am 9. Mai abgehaltenen Militärparade im Schwarzmeerhafen Sewastopol teilnehmen. Putin hat die Feiern zum Sieg über Nazi-Deutschland wiederholt für patriotische Reden genutzt.
Manöver zu Ende?
Verwirrung herrscht auch noch immer, ob die an Manövern an der ukrainischen Grenze beteiligten russischen Truppen in ihre Standorte zurückgekehrt sind. Moskau hatte dies angekündigt, die NATO sieht dafür aber keine Anzeichen. Russland hatte Mitte April zusätzliche Einheiten an die Grenze verlegt. Das Bündnis fordert Russland "weiterhin auf, gemäß der Vereinbarung von Genf zugunsten von Diplomatie und Dialog alle Truppen entlang der ukrainischen Grenze abzuziehen". Die NATO hatte am 10. April Satellitenbilder aus dem Grenzgebiet veröffentlicht und von 35.000 bis 40.000 dort stationierten russischen Soldaten gesprochen.
Charkower Bürgermeister in Israel
Der bei einem Attentat schwer verletzte Bürgermeister der ostukrainischen Stadt Charkiw, Gennadi Kernes, ist währenddessen zur Behandlung nach Israel ausgeflogen worden. Der 54-Jährige befinde sich im künstlichen Koma. Am Vortag hatte ein Scharfschütze dem Politiker in den Rücken geschossen. Ärzte retteten in einer Notoperation das Leben von Kernes, der Mitglied der Partei der Regionen des im Februar gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch ist. Der Anschlag auf Kernes ist ein schwerer Schlag auch für die Regierung in Kiew – denn der mächtige Charkiwer Bürgermeister dürfte am 22. Februar 2014 den ukrainischen Staat gerettet haben: Nach dem Sieg des Maidan war damals Viktor Janukowitsch nach Charkiw geflohen. Dort hätte bei einem Kongress der politischen Eliten der Ost- und Südukraine, so der kolportierte Plan, dieser Teil des Landes zu einem unabhängigen Staat mit Janukowitsch als Präsidenten ausgerufen werden sollen. Doch ausgerechnet Janukowitschs langjähriger Weggefährte Kernes, der am Kongress eine zentrale Rolle spielte, habe schließlich dem geflohenen Präsidenten einen Strich durch die Rechnung gemacht. Janukowitsch selbst suchte sein Heil bekanntlich in der Flucht nach Russland.
Die Ukraine-Krise trifft die russische Wirtschaft hart. Der Internationale Währungsfonds (IWF) sieht das Land schon jetzt in der Rezession und erwartet eine massive Kapitalflucht. Die Lage könnte sich weiter verschärfen, wenn der Westen zusätzliche Wirtschaftssanktionen auf den Weg bringt.
Insbesondere US-Firmen fahren ihr Geschäft wegen der Strafmaßnahmen bereits zurück, wie zum Beispiel der Kreditkartenanbieter Visa. Große deutsche Unternehmen wollen ihre Zusammenarbeit aber ungeachtet der politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen fortsetzen.
"Wenn man unter Rezession ein Minus-Wachstum von zwei Quartalen in Folge versteht, dann befindet sich Russland bereits in einer Rezession", sagte IWF-Experte Antonio Spilimbergo am Mittwoch in Moskau. "Weitere oder verschärfte Sanktionen wirken sehr negativ und belasten das Investitionsklima." Das Bruttoinlandsprodukt werde in diesem Jahr daher nur noch um 0,2 Prozent wachsen. Bisher waren 1,3 Prozent veranschlagt worden. Auch 2015 werde es lediglich zu einem Plus von einem Prozent reichen.
Der IWF rechnet damit, dass in diesem Jahr Kapital in Höhe von 100 Milliarden Dollar (72 Milliarden Euro) aus Russland abfließen wird. Allein im ersten Quartal waren es der Zentralbank zufolge 64 Milliarden Dollar. Dadurch ist auch der Rubel-Kurs auf ein Rekordtief abgerutscht, was importierte Waren teurer macht und die Inflation anheizt. Die Zinserhöhung in der vergangenen Woche werde nicht ausreichen, um das zu stoppen, so der IWF.
Visa rechnet wegen des politischen Konflikts des Westens mit Russland über die Ukraine mit einem Dämpfer für das Geschäft und stellte die Zusammenarbeit mit zwei russischen Banken ein. Daimler lässt sich dagegen nicht von dem wichtigen östlichen Automarkt abschrecken. "Wir haben keine Investitionen gestoppt - es wäre ein Fehler, alles auf Hold zu setzen", sagte Finanzvorstand Bodo Uebber in Stuttgart. Die Politik sei stark gefragt, eine Lösung zu finden. Derzeit sei die Nachfrage nach Autos in Russland rückläufig. Mercedes habe jedoch gegen den Trend zugelegt und im ersten Quartal mit 11.000 Fahrzeugen rund 2.000 mehr verkauft als im Vorjahr. Daimler Trucks dagegen habe die Flaute mit rückläufigem Absatz zu spüren bekommen.
E.ON-Chef Johannes Teyssen bemüht sich angesichts der Krise, Zweifel am Erfolg des milliardenschweren Russland-Geschäfts zu zerstreuen. "Mit sieben Prozent kommt ein spürbarer Ergebnisbeitrag aus unserem russischen Stromgeschäft", sagte der Manager auf der Hauptversammlung des Energiekonzerns in Essen. Zu möglichen Fragen nach den Auswirkungen der Ukraine-Krise, sagte er: "Wir arbeiten weiterhin gut mit unseren russischen Partnern zusammen." Allerdings habe der schwache Rubel dazu geführt, dass im vergangenen Jahr das Ergebnis des russischen Stromgeschäfts in Euro um sechs Prozent gefallen sei.
Der weltgrößte Autozulieferer Robert Bosch sorgt sich um den russischen Markt, auf dem er seit 110 Jahren aktiv ist und rund 700 Millionen Euro im Jahr umsetzt. "Wir machen uns natürlich Sorgen, wenn die Situation weiter eskaliert", sagte Bosch-Chef Volkmar Denner. Sein Unternehmen baue gerade eine Zentrale in Moskau, die in der zweiten Jahreshälfte eingeweiht werden soll.
Die USA hatten kürzlich Genehmigungen für die Ausfuhr von Hochtechnologie-Produkten zurückgenommen, wenn diese vom russischen Militär verwendet werden können. Zudem wurden Strafmaßnahmen gegen enge Vertraute von Präsident Wladimir Putin verhängt. Auch die EU hatte Konten weiterer Personen eingefroren. Der Westen wirft Russland vor, sich nicht um eine Entspannung der Lage im Osten des Nachbarlandes Ukraine zu bemühen. Dort streben Separatisten den Anschluss an Russland an.
Viktor Juschtschenko warnt die EU, dass sich aus einer zu weichen Haltung gegenüber Russland rasch ein Krieg entwickeln könnte: "Wenn Europa nicht sehr bald eine einheitliche Position und harte Wirtschaftssanktionen gegen Russland beschließt, wird Putin glauben, dass er tun kann, was er will", sagt Juschtschenko im Gespräch mit dem KURIER.
Der ukrainische Ex-Präsident, der nach der Orangen Revolution 2004 regierte, war am Dienstag auf Einladung von Henri Malosse, Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, in Brüssel. Er appellierte bei seinem Besuch an die EU-Staaten, nicht aus Sorge vor wirtschaftlichen Konsequenzen zu lange mit der nächsten Phase der Sanktionen zu warten: "Ich bin sehr besorgt, dass manche Regierungschefs in der EU sagen, Handelssanktionen soll es erst geben, wenn Russland die Situation weiter eskaliert. Das hieße, dass einige Länder die Aggressionen und Verbrechen, die Russland jetzt schon in der Ukraine begangen hat, akzeptieren."
Präsident Putin habe mit seinem "neo-imperialistischen" Vorgehen in den letzten Monaten "die Weltordnung, die uns nach Ende des Zweiten Weltkriegs Jahrzehnte in Frieden leben hat lassen, in Gefahr gebracht", sagt Juschtschenko. "Es spielt auch keine Rolle, ob jetzt 1000 oder 10.000 russische Soldaten in der Ukraine sind. Das Handeln des Kremls sollte als das behandelt werden, was es ist: Eine Verletzung der Weltordnung und internationaler Abkommen."
Richtungsentscheidung
Für Juschtschenko ist das Motiv des russischen Präsidenten klar: "Putin hat den Zerfall der Sowjetunion als die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Deswegen will er jetzt die Sowjetunion in anderer Form wieder aufleben lassen und die Ukraine mit Gewalt in die Eurasische Union zwingen. Ohne sie funktioniert diese Union nicht, und das wäre eine Niederlage für Putin."
Juschtschenko rät den EU-Spitzen, die Ukraine für die nächsten Jahre zu ihrer außenpolitischen Top-Priorität zu machen: "Die Frage ist, wo wird die Ukraine in zwei oder fünf Jahren sein? Wird sie europäische Werte und Demokratie umsetzen und damit Europa stärken – oder wird sie mit Gewalt gezwungen, Teil von Putins mittelalterlicher Politik zu sein?"
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