Nur wenige Wahllokale in der Ostukraine geöffnet
Rund 35 Millionen Menschen sind heute in der krisengeschüttelten Ukraine zur Wahl eines neuen Präsidenten aufgerufen. Die Abstimmung soll zur Stabilisierung der früheren Sowjetrepublik beitragen. Im Osten des Landes herrschen jedoch noch immer Chaos und Anarchie. Die OSZE wird dorthin aus Sicherheitsgründen keine Wahlbeobachter entsenden.
Wie gefährlich die Lage im Osten der Ukraine ist, zeigte der Tod eines italienischen Journalisten. Das Außenministerium in Rom teilte am Sonntag mit, dass Andrea Ronchelli am Samstag nahe der Rebellenhochburg Slawjansk durch Mörserbeschuss getötet wurde. Zwar sei seine Leiche noch nicht identifiziert worden, alles deute jedoch darauf hin, dass Ronchelli tot sei, sagte ein Ministeriumssprecher.
Stimmabgabe im Osten kaum möglich
In weiten Teilen des krisengeschüttelten Ostens gibt es kaum Möglichkeiten zur Stimmabgabe. In der Millionenstadt Donezk habe bisher kein Wahllokal geöffnet, teilte die von Kiew eingesetzte Gebietsverwaltung am Sonntag mit. Es lägen allerdings noch nicht Informationen aus allen Teilen der Region vor.
Örtliche Medien berichteten von vereinzelten Angriffen auf Wahllokale, etwa in der Stadt Dokutschajewsk. Im benachbarten Gebiet Lugansk könne vermutlich nur in zwei von zwölf Bezirken gewählt werden, betonte eine Nichtregierungsorganisation. In zwei Städten wurden zudem die Bürgermeisterwahlen abgesagt. In der Region halten prorussische Separatisten zahlreiche Verwaltungsgebäude besetzt. Es kommt immer wieder zu Gefechten mit Regierungstruppen.
Die Politikerin, die von ihrem Mann und ihrer Tochter begleitet wurde, liegt in Umfragen mit deutlichem Rückstand auf Platz zwei hinter dem Schokoladenfabrikanten Pjotr Poroschenko (siehe unten).
Separatisten vereinigten sich zu "Neurussland"
Am Samstag hatten sich die selbst ernannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk zu "Neurussland" vereint. Die prorussischen Separatistenführer der Gebiete mit mehr als 6,5 Millionen Einwohnern hätten einen entsprechenden Vertrag unterzeichnet, berichteten örtliche Medien am Samstag.
Bewaffnete mit Maschinenpistolen hätten die Zeremonie abgeschirmt, zu der als einziges Medium das russische Staatsfernsehen zugelassen worden sei, hieß es in den Berichten. Die russisch geprägten "Volksrepubliken" hatten sich nach nicht anerkannten Referenden Mitte Mai für eigenständig erklärt.
Der Schritt am Vortag der ukrainischen Präsidentenwahl gilt als Provokation gegen die prowestliche Führung in Kiew, die mit einem "Anti-Terror-Einsatz" gegen die moskautreuen Kräfte vorgeht. In Kiew räumte ein ranghoher Beamter des Innenministeriums ein, dass etwa 17.000 Mitglieder der Sicherheitsorgane in Donezk und Luhansk sich den Separatisten angeschlossen hätten oder der Regierung den Dienst verweigerten. Gegen die "Verräter" seien Strafverfahren eröffnet worden, sagte der Beamte.
Er hat Hände geschüttelt, in Kameras gegrinst, Fußballtrikots mit seinem Namen entgegengenommen und Reden gehalten. Er hat Kinder in den Arm genommen, ältere Damen umarmt und ist in Kampfhubschrauber geklettert. In den vergangenen Wochen ist Petro Poroschenko quer durch die Ukraine gereist – vom äußersten Westen in den umfehdeten Osten, vom Norden in den Süden. Und wenn die Ukrainer heute darüber abstimmen, wer der nächste Präsident des Landes werden soll, so ist ihm der Sieg an sich bereits sicher. Fraglich ist nur, ob er ihn im ersten Wahlgang schaffen wird. In Umfragen liegt er um die 50 Prozent, weit vor seiner Kontrahentin, Ex-Premierministerin Julia Timoschenko.
Es ist aber weniger Euphorie als Pragmatismus, der bei den allermeisten Ukrainern die Wahlentscheidung ausmacht – wenn auch mit gewissem Respekt für den Unternehmer, Strippenzieher und Politiker. Aber genau diese Rollen Poroschenkos sind es auch, die Skepsis keimen lassen. Denn eines ist klar: Den geforderten Elitenwechsel im politischen Establishment, für den Hunderttausende monatelang demonstriert hatten, verkörpert Poroschenko nicht. Eher das Gegenteil. Und für viele ist er schlicht das geringste Übel.
Poroschenkos Vergangenheit
Poroschenkos Biografie seit dem Ende der Sowjetunion ist genau die eines Mannes, der es geschafft hat, auf der Butterseite zu landen – wie es so viele gibt. Er handelte (in seinem Fall mit Kakaobohnen), erwarb günstig einen Betrieb (einen Süßwarenhersteller) und baute ihn zu einem Konzern aus. Zugleich baute er ein Investment-Imperium auf, zu dem eine Werft, Rüstungsbetriebe, ein TV-Sender sowie Agrar-Zulieferer gehören. Dann ging er in die Politik und vernetzte sich mit allen Lagern in der Ukraine: Er finanzierte die Orange Revolution 2004, war Außenminister unter Viktor Juschtschenko und später Wirtschaftsminister unter dessen Erzrivalen von 2004, Viktor Janukowitsch.
Er trat zurück und engagierte sich während der Revolution, die im Sturz Janukowitschs mündete. Er war der einzige Unternehmer der Ukraine, der während der Revolution klar politisch Stellung bezog und sich als Führer einer möglichen Übergangsregierung ins Spiel brachte – und genau das kommt ihm jetzt zugute.
Es ist aber vor allem die um sich greifende Unsicherheit angesichts kriegerischer Handlungen im Osten des Landes, die Poroschenko Rückenwind beschert, sowie der ausdrückliche Wunsch vieler, dass es nicht zu einer Stichwahl kommt. Und als einer mit verhältnismäßig sauberem Ruf in den Unternehmer-Zirkeln ist es noch am ehesten er, dem zugetraut wird, Änderungen zu vollziehen.
Die Wunschliste an den Neuen an der Staatsspitze ist lange. Da sind die ökonomischen Probleme, die Korruption, die schwierige Nachbarschaft mit Russland bei zugleich enger wirtschaftlicher Verwobenheit und vor allem der bewaffnete Aufstand im Osten des Landes.
Und Poroschenko hat Lösungen parat, wie er sie bei Auftritten darbot: eine Annäherung an die EU, ein Freihandelsabkommen mit der EU, die Schaffung von Jobs mit fairem Gehalt (hier verwies er gerne auf seine eigenen Unternehmen und die Löhne dort), die Neuordnung der Armee und ein hartes Vorgehen gegen Separatisten. Er sprach sich für eine Stärkung der Regionen aus, aber gegen eine Föderalisierung, wie sie Russland fordert. Nur was die NATO angeht und eine Annäherung der Ukraine an dieselbe, hier vermied es Poroschenko tunlichst, das Thema auch nur zu streifen.
In Kreml-nahen Kreisen ist indes davon die Rede, dass Poroschenko durchaus einer sei, mit dem man könne. Und Poroschenko selbst sagte zuletzt: "Natürlich kenne ich Putin gut. Ich habe viel Erfahrung in Gesprächen mit ihm. Ich kann bestätigen, dass diese Diskussionen nie einfach sind." Dennoch zeigte er sich zuversichtlich, was den Aufstand in der Ostukraine angeht: Binnen drei Monaten werde dieses Thema gelöst sein. Beobachter sehen vor allem Poroschenkos Umfrageerfolge hinter der zuletzt weicheren Gangart Moskaus in der Ukraine-Krise.
Selbstbewusstsein
Wenn auch Poroschenko nicht den Generationenwechsel in den ukrainischen Eliten verkörpert, so hat er es doch mit einem Wahlvolk zu tun, das durch die Ereignisse der vergangenen Monate vor Selbstbewusstsein strotzt. Und es ist genau dieses vor Selbstbewusstsein strotzende, neue Wahlvolk, das ihn kritisch beobachtend gewähren lässt – gestützt durch die Überzeugung, dass kein Präsident sich jemals wieder der Kontrolle des Volkes entziehen wird können und, dass das Volk jederzeit wieder zu Hunderttausenden auf die Straßen gehen wird, sollte über seine Köpfe hinweg regiert werden.
Die Politikwissenschafterin Tatyana Nagornyak von der Universität Donezk drückt es gegenüber dem KURIER so aus: "Die Politiker wissen heute, dass in einer Minute Tausende auf dem Maidan (dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, Anm.) stehen können. Der Maidan ist zu einer Macht im Staat geworden."
Putin wird die Wahl anerkennen. Nagornyak spricht von einem "post-imperialen Syndrom", auf die Frage, ob das denn wichtig sei.
Selbst wenn dem "Schokoladekönig" Poroschenko ein Erdrutschsieg gelänge – er wird kein strahlender Sieger sein. Seine Wähler haben ihn nicht mit Vertrauen gesegnet, sondern mit nahezu unlösbaren Mammutaufgaben beauftragt – auf dem Weg der Ukraine von der Traufe in den Regen, sozusagen. Und vor dem neuen Präsidenten liegen harte fünf Jahre.
Die Hand auf der Brust, der Blick ernst, um Punkt 08:00 Uhr hat das Kiewer Wahllokal in der Olhynska Straße wenige Gehminuten vom Unabhängigkeitsplatz Maidan mit dem Singen der Nationalhymne geöffnet. Ein Dutzend Wähler strömt in das Klassenzimmer im ersten Stock der Schule, die für den heutigen Sonntag zum Wahllokal umfunktioniert wurde. Auch hier gilt es einen neuen Präsidenten zu bestimmen.
Landesweit sind rund 33.000 Wahllokale eingerichtet. In den gläsernen Urnen werden die ersten ausgefüllten langen Bögen geworfen, für die Präsidentenwahl haben sich insgesamt 21 Kandidaten aufgestellt. (Petro, Anm.) "Poroschenko" ist auf einem der Stimmzettel angekreuzt. Die Hand eines alten Mannes zittert beim Einwerfen, er hat seinen Bogen mehrmals zusammengefaltet. Immer wieder blitzt es, und das Hündchen einer Frau posiert artig. Zahlreiche Kamerateams und Fotografen dokumentieren die Abstimmung ab der ersten Minute.
- "Ich wähle ( Petro, Anm.) Poroschenko, er ist noch der beste unter den Kandidaten", sagt Dimitri. Ob der Oligarch die vielen Herausforderungen meistern kann, vor denen das Land steht? "Wir müssen das selbst machen", plädiert Dmitri für Eigeninitiative. "Aber das braucht Zeit, dass junge Führungsfiguren auch aus dem Volk kommen. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob wir Richtung Europäische Union gehen können."
- "Mir gefällt Tigipko, er weiß mit Finanzen umzugehen. Poroschenko hat Verstand, er kann Englisch und gut reden, aber ich weiß nicht, ob das Geld auch zu den Leuten kommt", meint Natalia. "Tigipko kann die Wirtschaft retten, das ist da Wichtigste", stimmt eine energische Dame, beim Verlassen des Wahllokals zu.
- "Mir gefällt (Olga, Anm.) Bogomalez, vielleicht weil mir die Frauen gefallen", grinst ein Mann vom Sicherheitsdienst. Die populäre Ärztin tritt als unabhängige Kandidatin an.
- Eine halbe Stunde quietschen nun schon die Flip-Flops des jungen Mannes, endlich nach langem Warten wurde auch sein Name auf einer der Listen entdeckt. "Ich bin gerade erst hergezogen", zeigt er sich verständnisvoll.
- "Wo wollen sie denn hin?", schnappt eine Wahlhelferin einen älterer Mann, der auf der Suche nach den Wahlurnen mit seinem Stimmzetteln in der Hand Richtung Ausgang zusteuert. Die versiegelten Urnen beginnen sich zu füllen. Zwei Augen eines Wahlmitarbeiters haben sie gut im Blick. Im Vorfeld der Wahl hatte es scherzhaft geheißen, eine Person sei extra dazu bestimmt, die Schlitze der Urnen zuzuhalten, falls plötzlich das Licht ausgeht.
- "Die Frage ist, was passiert mit den Stimmen der Leute, die heute nicht herkommen? Wenn jemand die Wahl fälschen will, dann so. Die Namen werden von der Liste abgehakt und jemand von den Wahlmitarbeitern füllt den Stimmzettel aus", gibt ein Ukrainer zu bedenken. "In der Vergangenheit haben sie das gemacht, die Leute sind von Politikern oder Geschäftsmännern bestochen worden."
- Kurz kommt im ruhigen Schulzimmer Aufregung auf: Zehn Männer in Uniform strömen ins Wahllokal. Sie gehören zum Protestlager auf dem Maidan, in dem seit Monaten Präsenz gezeigt wird. Die dort ausharren, sind sich in ihren Präferenzen für den neuen Präsidenten uneinig. Poroschenko wird ebenso genannt wie Bogomalez und Oleg Tjagnibok, Chef der rechtsnationalen Swoboda-Partei und einer der Anführer der Proteste. Für die Bewohner des Camps, die aus dem ganzen Land kommen, wurde die Möglichkeit geschaffen, ihre Stimme in dem Wahllokal am Maidan abzugeben.
- Aber nicht alle machen davon Gebrauch. Halb nackt liegt ein junger Mann in einem der auf dem Platz errichteten Zelte. "Ich gehe nicht wählen, ich mag keinen der Kandidaten", meint er gelangweilt. Aufgewühlt beginnt ein Mann mit Aktentasche neben ihm über die Kandidaten zu schimpfen.
- "Nur noch 15 Prozent der Leute auf dem Maidan, sind die, die auch an den Revolutionstagen da waren. Der Rest ist ohne Arbeit und Job. Hier werden sie mit Essen und Zigaretten versorgt", zeigt ein Kiewer auch auf eine der Spendenboxen, die überall stehen. Ernster Nachsatz: "Dass sie gehen, wird nicht leicht, sie sind bewaffnet".
- Feuchte Tränen rinnen beim Anblick der Gedenkbilder, der mehr als Hundert auf dem Maidan im Zuge der Revolution Getöteten, über ihre Wangen. "Ja", sagt die blonde Frau, "ich habe schon gewählt, und zwar für Poroschenko, er weiß, das Richtige für das Land zu tun". "Ich bin für Poroschenko", meint auch eine Verkäuferin, die, in den gelb-blauen Nationalfarben gekleidet, Magneten am Maidan verkauft, zustimmend.
- "Ich hoffe wir haben schon eine Entscheidung im ersten Wahlgang und viele Leute kommen wählen", geht ein Mann mit seinem Hund im Sonnenschein vorbei. Dem Oligarchen Poroschenko könnte das laut Umfragen knapp gelingen.
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