Kremltreuer gewinnt in Moskau

Sergei Sobjanin bei einer Wahlveranstaltung mit einem Stimmzettel in der Hand.
Sobjanin bleibt Bürgermeister, doch die Wahl stärkt auch oppositionellen Blogger Nawalny.

Bei der mit Spannung erwarteten Bürgermeisterwahl in Moskau hat sich Amtsinhaber Sergej Sobjanin nach offizieller Darstellung durchgesetzt. Nach Auszählung fast aller Stimmzettel kommt Sobjanin auf 51,27 Prozent der Stimmen, während der oppositionelle Herausforderer Alexej Nawalny rund 27 Prozent erreichte. Kommentatoren sprachen von der "Geburtsstunde" eines neuen ernstzunehmenden Politikers im größten Land der Erde. 2018 will Nawalny sogar gegen Präsident Wladimir Putin antreten.

Die Angaben des Nawalny-Lagers widersprechen den offiziellen Zahlen: Laut seinem Wahlkampfteam schaffte es der Anwalt und Blogger bei der ersten Bürgermeisterwahl in der russischen Hauptstadt seit einem Jahrzehnt mit 35,6 Prozent in eine zweite Runde, weil der von Präsident Wladimir Putin unterstützte Sobjanin nur 46 Prozent erhalten habe. Seine Unterstützer fordern eine Stichwahl - die es aber nicht gegen dürfte. Am Montag wollen sich die Anhänger Nawalnys in Moskau treffen und über ihr weiteres Vorgehen beraten. Nawalny hatte bereits vor der Wahl Proteste angekündigt für den Fall, dass es Unregelmäßigkeiten geben werde.

An der Wahl nahmen nach Angaben der regierungsunabhängigen Organisation Golos bis zu 8.000 Beobachter teil. Zwar hatten sie bis zum Nachmittag keine Verstöße gemeldet, jedoch im Vorfeld der Wahl massive Unregelmäßigkeiten kritisiert. Zahlreiche Kandidaten der Opposition und unabhängige Bewerber seien nicht zur Wahl zugelassen worden, teilte die Organisation in einer Analyse mit. Gleichzeitig hätten Politiker der Regierungsparteien mit einer zu frühen sowie mit verdeckter Werbung gegen Gesetze verstoßen, hieß es.

Umstrittener Prozess

Nawalny war im Juli in einem umstrittenen Prozess wegen Veruntreuung öffentlicher Mittel zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Überraschend wurde die Haftstrafe bis zu einem Berufungsverfahren ausgesetzt, um dem 37-Jährigen die Teilnahme am Wahlkampf zu ermöglichen. Nawalny war mit den Protesten 2011/2012 gegen die russische Führung zu landesweiter Bekanntheit gelangt. Obwohl vielen Moskauern seine Tiraden gegen Immigranten zu weit gehen, unterstützen sie ihn, um ein Zeichen gegen Präsident Putin zu setzen.

Sobjanin steht seit 2010 an der Spitze der Hauptstadtverwaltung - der 55-jährige Technokrat wurde damals vom Kreml eingesetzt. Mit dem jetzt erfolgten Wahlgang wollte er eine demokratische Bestätigung für sein Amt einholen. Er gilt als farblos und wenig charismatisch, viele Moskauer aber loben seine Initiativen zur Verbesserung des Alltags in Moskau.

Putin: "Brauchen dynamische und pragmatische Leute"

Bei der Stimmabgabe sagte Putin, die großen Städte bräuchten keine Politiker, sondern "dynamische und pragmatische Leute, ich würde sogar sagen, unpolitische Technokraten, die zu arbeiten verstehen".

Auch in anderen Städten Russlands wurden am Sonntag Bürgermeister oder örtliche Parlamente neu gewählt. In der viertgrößten russischen Stadt Jekaterinburg hat sich der Oppositionskandidat Jewgeni Roisman gegen den Kandidaten des Kreml durchgesetzt. Nach Auszählung der Stimmen aus 500 der 565 Wahllokale kam Roisman in der Industriestadt im Ural auf 33 Prozent. Der von der Regierungspartei unterstützte Jakow Silin erhielt demnach 30 Prozent.

Der Leiter der örtlichen Wahlkommission, Ilja Sacharow, sagte, Roisman habe 10.000 Stimmen Vorsprung und sei kaum noch einzuholen. Wenn der Sieg bestätigt wird, ist es das erste Mal, dass ein Oppositionskandidat bei einer Wahl in einer großen russischen Stadt den Kreml-treuen Kandidaten schlägt.

Roisman wurde von der gemäßigt liberalen Oppositionspartei des Milliardärs Michail Prochorow unterstützt. Er ist Vorsitzender der Stiftung "Eine Stadt ohne Drogen", die mit umstrittenen Methoden gegen Drogensucht kämpft. Der Stiftung wird vorgeworfen, Suchtkranke mit Zwangsmaßnahmen wie kaltem Entzug zu behandeln.

Es ist wohl die Krönungswahl für Alexej Nawalny, den Führer der zerstrittenen russischen Opposition - für den Mann, der auch Kremlchef Wladimir Putin einmal besiegen will. Der 37-Jährige erreichte bei der Bürgermeisterwahl in Moskau am Sonntag nach einem erbittert geführten Straßenwahlkampf ein Kunststück der russischen Politik: Aus dem Stand holte er laut Prognosen rund 30 Prozent der Stimmen - etwa das Doppelte des Erwarteten.

Das nannten Beobachter mehr als einen Achtungserfolg gegen den staubtrockenen, vom Kreml gestützten Amtsinhaber Sergej Sobjanin. Der Technokrat kam knapp über die 50-Prozent-Marke - und entging damit einer Stichwahl. Ein Duell mit zwei Siegern. Zerknirscht verlautete nach Schließung der Wahllokale aus dem Stab des Amtsinhabers: Nawalny habe es besser verstanden, seine Anhänger und Protestwähler zu mobilisieren. Sobjanin hingegen habe den Wahlkampf seinen Helfern überlassen.

Es war ein mit Spannung erwarteter Tag der Entscheidung für den Anti-Korruptionskämpfer Nawalny als Galionsfigur der Protestbewegung gegen Putin. Nawalny will den Präsidenten bei der nächsten Wahl des Staatsoberhaupts 2018 in die Knie zwingen.

Gespenstische Stimmung

Über Moskau - Europas größter Stadt - lag tagsüber eine gespenstische Stimmung. Der Himmel wolkenverhangen, die mächtigen Prospekte wie leer gefegt. Viele sprachen von einem historischen Urnengang. Nicht nur konnten die Moskauer erstmals seit zehn Jahren überhaupt wieder ein Stadtoberhaupt selbst wählen - vorher hatte Putin das bestimmt. Es war vor allem zum ersten Mal auch echte Konkurrenz zugelassen - mit dem jungen Nawalny, der vielen als Vorzeige-Russe gilt.

Der Anwalt und Blogger ist dem Kreml ein Dorn im Auge, weil er zum Ärger Putins das System immer wieder als korrupt, hintertrieben und voller Willkür brandmarkt. Putin schien zuletzt die laufenden Strafverfahren gegen Nawalny zu verteidigen: Wo "dieser Mann" aufkreuze, gebe es Ärger, meinte er. Am Sonntag bei seiner Stimmabgabe sprach der Kremlchef seinem Gegner noch jede Eignung als Rathauschef ab: "Großstädte benötigen keinen Politiker, sondern einen Menschen, der zu arbeiten versteht", sagte Putin in die Mikrofone.

Bilderbuchfamilie

Doch der wortgewandte Nawalny, der mit seiner Frau Julia und den Kindern eine Bilderbuchfamilie abgibt, nimmt solchen Schimpf von Putin als Ansporn. "Geht wählen - ändern wir Russland, fangen wir in Moskau an", schrieb er am Wahltag in einem Blog. Dass sich der vor allem bei jungen Menschen beliebte Populist erstmals erfolgreich einer Wahl stellt, dürfte ihn erheblich stärken.

Aber es war aus Sicht vieler Beobachter auch ein aussichtsloses Gefecht gegen die mächtigen Mühlenflügel des Kreml: Der 55 Jahre alte Amtsinhaber Sobjanin genießt den Rückhalt Putins, die uneingeschränkte Zuwendung der Staatsmedien - und den für viele Russen tadellosen Ruf eines disziplinierten Apparatschiks, der den Moloch Moskau am ehesten in eine gute Zukunft steuern kann.

Schützenhilfe

Der Kreml überließ auch bei dieser Wahl nichts dem Zufall. Ein anderer prominenter Oppositioneller, der Linkspolitiker Sergej Udalzow, etwa durfte nicht teilnehmen. Und sogar das Verteidigungsministerium leistete Schützenhilfe: Zu einem großen Stadtfest, auf dem Sobjanin sich am Sonntagabend trotz des am "Tag der Stille" verbotenen Wahlkampfes auf dem Roten Platz in Szene setzte, beschossen Flugzeuge den Himmel mit Chemikalien, um für gutes Wetter zu sorgen.

Vor drei Jahren wurde der damalige Kremlfunktionär Sobjanin auf den Posten gehoben - nachdem der legendäre Bürgermeister Juri Luschkow nach fast 20 Dienstjahren in Ungnade gefallen war. "Sobjanin ist ein erfahrener Beamter, er hat in den vergangenen drei Jahren die wilden Kioske in der Stadt entfernen lassen, unsere Parks erneuert und neue Metrostationen eröffnet", sagte der 83 Jahre alte Pensionist Wassili nach der Stimmabgabe.

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