Istanbuls Proteste wieder aufgeflammt

Die türkische Polizei ist in Istanbul erneut gegen regierungskritische Demonstranten vorgegangen. Nach einem Konzert "für Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden" kam es am späten Sonntagabend im Stadtviertel Kadiköy auf der asiatischen Seite zu neuen Zusammenstößen, wie türkische Medien am Montag berichteten. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Plastikgeschoße ein. Sie verfolgte Demonstranten bis in die Nebenstraßen. Es gab mehrere Verletzte und Festnahmen.
Der Tod eines 22-Jährigen Demonstranten hatte vor einer Woche die jüngste Welle der Protesten gegen die konservativ-islamische Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ausgelöst. Seither treffen einander die Demonstranten wieder regelmäßig und proben den Aufstand.
Nach dem Tod des Mannes in Antakya hatten Augenzeugen und Verwandte angegeben, der junge Mann sei von einer Tränengaspatrone der Polizei am Kopf getroffen worden. Das Innenministerium sah dagegen keine Schuld bei der Polizei und teilte mit, der Demonstrant sei vom Dach eines Gebäudes gestürzt. Es ist das sechste Todesopfer seit Beginn der Protestwelle Ende Mai, die als Reaktion auf die brutale Räumungsaktion des Istanbuler Gezi Parks durch Polizeieinheiten folgte.
Die Bilder aus Istanbul:
Demokratisierungspaket
Die Regierung feilt indes seit Monaten hinter verschlossenen Türen an ihrem angekündigten Demokratisierungspaket. Premier Erdogan hat am Donnerstag den Protestierenden neuerlich gedroht, Freiheit gebe es nur im Rahmen des Gesetzes. Wer sich nicht daran hält, werde die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.
Die Opposition wirft der Regierung vor, eine Spaltung der türkischen Gesellschaft vorzunehmen, die AKP hetze die Bevölkerung gegeneinander auf. Auch von zivilen, AKP-nahen Schlägertrupps ist die Rede. „Wenn ihr das Tarikat habt, haben wir die Barrikaden“ (Tarikat: radikal-islamische Sekten), lautet einer der vielen gegen die Regierungspolitik der AKP gerichteten Sprüche, die Istanbuls Straßen und Hausfronten neuerdings wieder zieren.
Kurden unterstützen Proteste
Kurden- und linke Organisationen, die bisher auffällige Zurückhaltung geübt hatten, könnten ihre Taktik nun ändern. Der Zeitung Hürriyet zufolge hat der städtische Arm der PKK, die KCK, am 11. September erklärt, sie unterstütze die landesweiten Proteste gegen die regierende AKP und wolle die Regierung so zwingen, weitere Schritte zur Demokratisierung einzuleiten. Es sind Reglements im Alltag, die viele trotz Angst vor Repressalien weiter auf die Straße treiben: Die Anzahl zu gebärender Kinder, Alkoholverbotszonen im Umkreis von Schulen, Kindergärten und Moscheen, also beinahe überall, nicht regierungsgenehme Beziehungen ohne Trauschein, neue Bauvorschriften für Neubauten, die nur Familiengrößen ab drei Räumen berücksichtigen.
Mit einer satten AKP-Mehrheit im Parlament - 327 von insgesamt 550 Sitzen - steht fest, wer diese Gesetze und Regeln dominiert. Das haben auch die Ärzte-, Anwalts- und Architektenkammern im Rahmen der Gezi Park Unruhen zu spüren bekommen. Die Architektenkammer wurde entmachtet, hilfeleistenden Ärzten wurde mit Lizenzentzug gedroht, die Spitäler wurden aufgefordert, die Namen der Verletzten, laut türkischer Ärztekammer an die 7.600 im Zuge der Gezi Park Proteste, zu melden.
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