Netanjahu wählt große Worte – doch in der Bevölkerung regt sich Kritik
Die Glaubwürdigkeit des israelischen Ministerpräsidenten war schon vor dem Hamas-Angriff angeschlagen. Dieser versucht mit einer Ansprache, das lange Schweigen wieder gut zu machen.
10.10.23, 11:35
aus Tel Aviv Norbert Jessen
"Dieser Krieg wurde uns von einem abscheulichen Feind aufgezwungen. Menschenbestien, die den Mord von Frauen, Kindern und Alten bejubeln." So eröffnete Israels Premier Benjamin Netanjahu seine erwartete Rede an die Nation am Abend des dritten Kampftages. Zu spät für die Tausenden Angehörigen der 900 Todesopfer (die Zahl steigt noch), 2.600 Verletzten und der verschleppten Geiseln, deren Zahl über 100 liegen soll. Sie sind verunsichert von Netanjahus langem Schweigen nach seiner kurzen lakonischen Mitteilung zum Kriegsbeginn am Samstagmorgen.
In der Nacht zum Dienstag wurden in Israel immer noch vereinzelte Terroristen am Gaza-Grenzgürtel angetroffen. Zudem wurde auch ein Tunnel entdeckt, der durch das unterirdische Stahlfundament der Sperranlage gebohrt wurde. Weitere Angriffe mit Raketen jagten auch am Dienstag die Bevölkerung Südisraels wieder in die Schutzräume, auch an der libanesischen Grenze im Norden. Im Süden hat Israels Armee 300.000 Reservisten mobilisiert. Auch die Luftangriffe Israels hämmern pausenlos auf den Gazastreifen ein.
Dort riet ein israelischer Armeesprecher den Bewohnern, über die nahe Grenze nach Ägypten zu flüchten. Sie stand am Dienstagmorgen noch offen. An die 600 Tote meldete am Dienstag der Rote Halbmond aus Gaza. Fast 200.000 Menschen sind auf der Flucht.
Angst vor Flächenbrand
Netanjahu sprach in seiner Reden von den Gräueltaten der Mörder, die ganze Familien ausgerottet haben: "Jetzt weiß es alle Welt: Die Hamas ist der Islamische Staat und wir werden ihn bezwingen, wie die fortschrittliche Welt den IS bezwungen hat." Er vermied Einzelheiten des Grauens, das in den sozialen Netzwerken aber eindeutig zu sehen ist: Wie der IS schnitten auch die Kämpfer der Al-Kassam-Brigaden einigen ihrer Opfer den Kopf ab. Bilder, die sich in die Erinnerung einschweißen. Netanjahu: "Unsere Antwort wird noch über Generationen zu spüren sein."
Staatspräsident Jizchak Herzog wandte sich an Regierende in aller Welt: "Seit dem Holocaust wurden niemals so viele Juden an einem Tag ermordet." Internationale Solidarität und Unterstützung seien jetzt wichtig – nicht für den Krieg mit der Hamas in Gaza, sondern für einen Krieg, der den ganzen Nahen Osten bedrohen kann, wenn weitere iranische Verbündete in Libanon und Syrien sich den Angriffen auf Israel anschließen. An der Nordgrenze kam es bisher nur zu vereinzelten Versuchen libanesischer Milizen, in Israel einzudringen. Sie wurden mit örtlich begrenztem Feuer abgewehrt. Israels Nachbarstaaten wissen wohl auch: Ein Krieg würde sie in verheerendes Chaos stürzen. Bevölkerung, Politik und Wirtschaft in Libanon und Syrien sind durch Bürgerkriege und Finanzkrisen ohnehin stark geschwächt.
Weder die syrische noch die libanesische Regierung wollen daher unkontrollierte Aktionen der iranischen Proxy-Milizen auf ihrem Boden. Alle Anrainer-Regierungen wurden am Montag von europäischen Diplomaten angemahnt, Ruhe zu wahren. US-Kriegsschiffe kreuzen im Persischen Golf. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğantelefonierte persönlich als Schlichter mit seinen Nachbarn. Arabische Quellen berichten von einem weiteren Telefongespräch, das bereits am Donnerstag vergangene Woche zwischen dem ägyptischen Geheimdienstchef und Israels Premier stattgefunden haben soll.
Netanjahu dementiert vehement, dass er telefonisch vor einer "sehr großen Aktion der Hamas in den nächsten Tagen" gewarnt worden sei. Nicht alle glauben ihm. Seine Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung war schon vor dem Hamas-Angriff angeschlagen. Und im Krieg ist sie noch wichtiger als im Wahlkampf.
Netanjahu versucht, durch die Kämpfe im Süden die Aufmerksamkeit der verunsicherten Bevölkerung von seinem Anteil am Versagen abzulenken. Doch häufen sich schon jetzt die Stimmen, die seinen Rücktritt fordern. Die Zeitung Yedioth: "Nicht nach dem Krieg. Jetzt." Sprecher aus der Regierung und der Koalition wehren ab: "Für Schuldzuweisungen ist jetzt keine Zeit." Nach dem Krieg soll die Schuldfrage geklärt werden. Die Zeitung Haaretz zweifelt an der Fähigkeit Netanjahus, gleichzeitig Angeklagter vor Gericht und Regierungschef zu sein: "Die Wähler müssen Einblick in die Tagesplanung des Premier Monate zurück erhalten: Womit hat er sich beschäftigt? Wie oft sprach er über seine Lage vor Gericht? Wie oft über die Lage in Gaza?"
Kritik wird auch laut am bisherigen Verhalten der Regierung zu Katar: Sie habe ihre Beziehungen mit der Hamas in Gaza zu stark über Katar laufen lassen. Mit Bargeldkoffern, die seit Jahren von Diplomaten des Golfstaates und mit Netanjahus Segen nach Gaza gerollt wurden. Diese Millionen sollten als Gegenleistung zur Einstellung der Gewalt ausschließlich wirtschaftlichen Zwecken dienen. Jetzt ist klar: Sie wurden auch zur militärischen Aufrüstung verwendet.
In Katar sitzt auch die Auslandsführung der Hamas, sie ist noch weit radikaler als die Hamas-Regierung in Gaza. Für einige Experten in Israel ist der superreiche Öl- und Gas-Staat "ein Kopf der islamistischen Schlange, der sich pro-westlich gibt."
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