Internationale Pressestimmen: Deutschland als "Bittsteller"

Beim Brüsseler Sondergipfel am Montag wurde eine mögliche Einigung mit der Türkei vertagt. Nach Bekanntwerden der Eckpunkte sehen aber viele die Türkei bereits als Gewinner.
Zur Lage der EU und Deutschland in der Flüchtlingskrise nach dem Gipfel schreiben die internationalen Zeitungen am Mittwoch:
Neue Zürcher Zeitung:
"Die Flüchtlingswelle hat die deutsche Führungsrolle geschwächt. Deutschland ist in Europa zum Bittsteller geworden. Angesichts verstärkter nationaler Egoismen und des Versagens der europäischen Institutionen ist niemand in Sicht, der Europa mit einem klaren und überzeugenden Konzept aus der Ratlosigkeit und der multiplen Krise herausführen und das Vertrauen der Menschen in Europa zurückgewinnen könnte. In Anbetracht der desolaten Lage wäre dies sowieso ein höchst langwieriger Prozess.
Insbesondere die EU-Kommission als 'Hüterin der Verträge' hat keine Führung gezeigt. Sie hat versagt. Sie hätte seit 2010 darauf bestehen müssen, europäisches Recht und die gemeinsamen Regeln einzuhalten, dann wären das Euro-Gebiet und die EU heute in einer völlig anderen Verfassung. Nach dem Verrat am Maastricht-Vertrag wurde auch gegen Schengen und Dublin verstossen. Neben dieser Schwäche der Kommission fehlt es vor allem an politischem Mut und an der politischen Weitsicht, Europas Strukturen zu stärken."
Nepszabadsag, Budapest:
"Seit vielen Jahrzehnten gaukelt Europa der Türkei etwas vor und lässt sie zugleich im Stich. Man darf sich nicht darüber wundern, dass Ankara dies, wenn möglich, ohne Zaudern heimzahlt. Es ist eine diplomatische Regel, dass man einem Gipfeltreffen keine offenen Fragen überlassen darf, denn die notwendigerweise mit einem starken Ego ausgestatteten Staats- und Regierungschefs sind unfähig, im letzten Moment einander Zugeständnisse zu machen, ohne wie Schwächlinge zu wirken.
Die Türken haben absichtlich hoch gepokert, indem sie ihre europäischen 'Freunde' mit neuen Forderungen überrascht haben. Nächste Woche gibt es wieder ein Gipfeltreffen - in einer für Angela Merkel leichteren Situation, nämlich nach den an diesem Sonntag fälligen Wahlen in drei deutschen Bundesländern. Danach wird es sich herausstellen, welchen Preis die Europäische Union den Türken für ihre Hilfe (in der Flüchtlingsfrage) zu bezahlen bereit ist."
de Volkskrant, Amsterdam:
"Die Absprache der EU-Mitgliedsländer mit dem türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu ist ein Schritt in die richtige Richtung. Um illegale Migration und Menschenschmuggel zu bekämpfen, muss die Überprüfung von Flüchtlingen bereits auf der gegenüberliegenden Seite des Mittelmeeres erfolgen. Zugleich müssen Menschen, die sich am Strand in Griechenland melden, tatsächlich wieder zurückgeschickt werden. Sollte das mit diesem Deal gelingen, wäre viel gewonnen. EU-Ratspräsident Tusk erklärte, dass die Tage der illegalen Migration nun vorüber seien. Hoffentlich hat er damit recht. Nicht allein wegen der menschenunwürdigen Zustände am Stacheldraht von Grenzen, sondern auch, weil sich die Verhältnisse zwischen den EU-Mitgliedstaaten alarmierend schnell verschlechtern. Dass Europa im Gegenzug eine große Anzahl Flüchtlinge aufnimmt, ist mehr als gerecht. Und dass die Türkei für das Entgegenkommen einen kräftigen Extrabetrag einkassieren will, ist eigentlich auch selbstverständlich."
Jyllands-Posten, Aarhus ( Dänemark):
"Wären da nicht zynische Menschenschmuggler, eine offene Balkanroute und ein zusammengebrochenes griechisches Asylsystem gewesen, hätte das Signal der EU an die Türkei mit unverminderter Kraft lauten können: Menschenrechte gehen über alles, und solange es in dieser Hinsicht in der Türkei keine geordneten Verhältnisse gibt, gibt es an den Verhandlungstischen in Brüssel auch nichts zu holen.
Die Verhältnisse in der Türkei haben sich nicht in die richtige Richtung bewegt, während die Aufnahmegespräche eingefroren waren; im Gegenteil. Die Schließung der Zeitung 'Zaman ist nur das jüngste Beispiel eines Übergriffes, der dazu führen sollte, dass die EU mit lauter Stimme verkündet, dass die Mitgliedschaft noch weiter in die Ferne gerückt ist, und dass Erdogan wie ein Ausgestoßener behandelt wird. Stattdessen darf er sich in der Gunst aller Bittsteller sonnen."
El Pais, Madrid:
"Der Umschwung der EU beinhaltet eine gefährliche Botschaft: Dass man auch bei Grundsätzen und moralischen Prinzipien Kompromisse machen darf, wenn man im Gegenzug etwas dafür bekommt. Der Weg, der zu diesem traurigen Abkommen geführt hat, kann für die Zukunft der Union stark zerstörend wirken.
Niemandem ist entgangen, dass man diesen dramatischen Punkt erreicht hat, weil die EU unfähig war, ein echtes Abkommen über die Verteilung der Flüchtlinge zu erreichen und - was noch schlimmer ist - nicht in der Lage war, zu vermeiden, dass verschiedene Länder die erzielten Vereinbarungen missachten und einseitige Entscheidungen treffen, die das Schengener Abkommen zunichte gemacht haben. Es wurde bewiesen, dass es möglich ist, Gesetze und Abkommen zu brechen, ohne dass etwas geschieht. Ein schlimmer Präzedenzfall für künftige Krisen."
Duma, Sofia:
"Auf den ersten Blick scheinen alle zufrieden zu sein. Die Wahrheit ist aber viel düsterer: In Brüssel wurde praktisch nichts erreicht. Alle Pläne sind nur vorläufige Abmachungen. Die wirklichen Lösungen können nicht vor dem 17. März erwartet werden - dann ist das reguläre Treffen des EU-Rats. Aber auch dann dürften sich die europäischen Führer kaum auf etwas Konkretes einigen. Die Differenzen in Europa über die Lösung der schweren Migrationskrise werden immer offensichtlicher. (...)
Das einzige Ergebnis des Brüsseler Gipfels ist katastrophal für die europäische Politik. Die Gespräche mit (dem türkischen Regierungschef Ahmet) Davutoglu zeigten die wirkliche Hilflosigkeit der Europäer - die sind unfähig, mit der Migrationskrise fertig zu werden, und erwiesen sich als völlig machtlos vor der türkischen Erpressung. (...) Für die Gastfreundlichkeit von (Bundeskanzlerin) Frau (Angela) Merkel wird Europa Ankara allerdings teuer bezahlen."
La Croix, Paris:
"Es gibt viele Nachteile. Diese Vereinbarung behandelt Flüchtlinge wie Zahlen und nicht wie Menschen, die gemäß internationaler Konventionen Rechte haben. Sie überlässt die Flüchtlingsfrage einem Land, in dem sich gerade ein besonders besorgniserregender autoritärer Wandel vollzieht. Sie verleiht der Türkei, die bisher nichts gegen die Flüchtlingsbewegung unternommen hat und sie als Hebel für eigene Interessen nutzt, eine Position der Stärke. Und sie wird Europa nicht einmal davon befreien, illegale Einwanderer mit Gewalt in die Türkei abzuschieben. Wir zahlen einen hohen Preis für einen wenig ehrenvollen Kuhhandel."
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