"Frischer Wind", "sichere Hände" oder einfach nur Zufall
"Wenn die Probleme der Welt gewichtet, geeicht und geregelt sind/Kommt immer eine Frau/Um den Tisch abzuräumen/Den Boden zu wischen und die Fenster zu öffnen/um den Zigarrenrauch hinauszulassen" (Ingibjörg Haraldsdóttir)
Jóhanna Sigurðardóttir hatte 2009 nach dem Finanzcrash in Island die Regierungsgeschäfte übernommen. Im Juni, nach dem Brexit-Referendum, zeichnete sie mit einem Zitat der isländischen Schriftstellerin Ingibjörg Haraldsdóttur (siehe Zitat oben) ein Bild von der Frau, die immer wieder hinter den Männern aufräumt. Mit Theresa May übernimmt nicht zum ersten Mal eine Frau das Ruder in einer Krise. Zuletzt ist in Schottland nach einem erfolglosen Referendum Nicola Sturgeon eingesprungen, auch Margaret Thatcher kam einst in einer Krisenzeit, Angela Merkel, als es der CDU nicht gut ging und Helle Thorning-Schmidt führte Dänemark aus dem Sturm.
Die britischen Sozialpsychologen Michelle Ryan und Alex Haslam prägten für dieses Phänomen – als Ergänzung zum "Glass Ceiling" (Gläserne Decke: Die Frau sieht den Chefsessel zwar, kann ihn aber nicht erreichen) – den Begriff des "Glass Cliff" (Gläserner Abgrund): Die Nation oder die Partei steht vor einer hoffnungslosen Situation. Dann soll eine Frau übernehmen und den Scherbenhaufen aufräumen.
Das ist einerseits auf das Vertrauen zurückzuführen, das Frauen entgegengebracht wird. Bei ihnen sei das Land in sicheren Händen.
Um an eine Führungsposition zu gelangen, müssen sich Frauen meist noch mehr behaupten als Männer, sagt Politikwissenschaftlerin Melanie Sully vom Go-Governance Institut im KURIER-Gespräch. Einmal "oben" angekommen spricht man vielen Frauen daher mehr Geradlinigkeit zu als den Männern, deren zugeschriebene Risikobereitschaft die Krisensituation scheinbar herbeigeführt habe. Gerade in konservativen Kreisen stehen Frauen dann auch oft für Veränderung und "frischen Wind".
Andererseits sei es aber oft auch einfach Zufall, dass in diesen Zeiten eine Frau übernimmt, sagt Sully. Etwa, weil alle Männer der jeweiligen Partei "aufgebraucht" seien und eine Frau als nächstes in der Reihenfolge steht.
Umdenken
In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Frauen in Führungspositionen weltweit jedenfalls mehr als verdoppelt. Doch von mehr als 190 Staaten haben noch nicht einmal 10 Prozent einen weiblichen Staatschef. In Europa werden es mit Theresa May drei sein. Die Tendenz ist aber steigend.
Den Internationalen Währungsfonds leitet mit Christine Lagarde eine Frau, die USA könnten mit Hillary Clinton demnächst die erste Präsidentin haben, auch für UN-Chef Ban Ki-moon ist eine weibliche Nachfolge wahrscheinlich.
Dass eine Frauenquote in Regierungspositionen gebe, ist keine Besonderheit mehr – "weil wir 2015 schreiben", hat der kanadische Premierminister voriges Jahr gesagt. Und das gilt auch 2016 noch. "Es findet langsam eine Änderung im Bewusstsein statt", sagt Politikwissenschaftlerin Sully.
Kommentare