Nach 17-jähriger Bauphase wurde der jüngste Reaktor in der Normandie ans Netz angeschlossen. Trotz der aufgetretenen Probleme will Präsident Macron mindestens sechs neue Reaktoren bauen lassen.
An die Meldungen von immer weiterer Verzögerungen und einer stetig steigenden Rechnung beim Bau des neuen Europäischen Druckwasserreaktors, kurz EPR, in Flamanville in der Normandie war man in Frankreich seit langem gewöhnt. So wurde es nicht laut gefeiert, als der dritte Reaktor der dortigen Atomanlage Ende Dezember mit einer Verspätung von zwölf Jahren und Mehrkosten in Höhe von über 20 Milliarden Euro endlich ans Netz ging – 17 Jahre nach der Grundsteinlegung.
Wenn bis zum Sommer der Volllastbetrieb aufgenommen wird, soll er mit einer Kapazität von 1600 Megawatt der mächtigste der 57 französischen Reaktoren sein.
Allerdings geht der Rechnungshof in einem Bericht angesichts der Gesamtkosten von 23,7 Milliarden Euro – ursprünglich geplant waren 3,3 Milliarden – nur von einer „mittelmäßige Rentabilität“ aus.
Im Gegensatz zum staatlichen Versorgungskonzern EDF als Betreiber bezog die Institution die Finanzierungskosten in die Gesamtrechnung mit ein. Die Umweltschutz-Organisation Greenpeace sprach mit Blick auf die ebenfalls problembeladene Fertigstellung anderer Reaktoren mit der EPR-Technik durch EDF in China, Finnland und Großbritannien von einem „internationalen Fiasko“.
Als Exportschlager geplant
Eigentlich sollte der als Reaktor einer neuen Generation beworbene EPR als Vorzeigeprojekt für die französische Nuklearindustriebranche dienen und zum Exportschlager werden. Doch ein Bericht des früheren Chefs des Autokonzerns PSA Peugeot Citroën, Martin Folz, kam 2019 zu dem Schluss, dass der Bau in Flamanville angesichts der enormen Mehrkosten und Verzögerungen „für EDF als Misserfolg angesehen werden muss“.
Als Ursachen machte er unter anderem eine mangelhafte Projektleitung, unzureichende Studien bei Baubeginn sowie den „Verlust allgemeiner Kompetenzen“ aus. Letzterer erkläre sich dadurch, dass 16 Jahre lang keine Reaktoren mehr gebaut wurden und in dieser „Phase der Unteraktivität“ viel Wissen und technisches Know-How verlorengingen. Die französischen Atomreaktoren sind inzwischen 39 Jahre alt. Nur wenige wurden inzwischen geschlossen, wie jenes in Fessenheim an der deutschen Grenze im Jahr 2020.
Entschieden hatte dies der frühere sozialistische Präsident François Hollande. Er wollte den Nuklear-Anteil an der Stromerzeugung auf 50 Prozent reduzieren, doch liegt dieser weiterhin bei 65 Prozent. Weltweit verfügt Frankreich über den zweitgrößten zivil genutzten Atompark nach den USA.
Die "Renaissance der Atomkraft"
Hollandes Nachfolger Macron setzte nach seiner Amtsübernahme 2017 dessen Politik zunächst fort, vollzog dann aber eine Kehrtwende. 2022 kündigte er eine „Renaissance der Atomenergie“ in Frankreich mit dem Bau von mindestens sechs und bis zu 14 EPR mit neuer Technologie ab 2035 jeweils auf dem Gelände schon bestehender Atomkraftwerke an.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will den weiteren Ausbau der Atomkraft im Land
Alle Laufzeiten bestehender Reaktoren sollten zugleich maximal verlängert werden. Weil der Strombedarf steige, gelte es zugleich die Erneuerbaren Energien auszubauen, so Macron. Experten zufolge hat Frankreich in dieser Hinsicht weiterhin starken Nachholbedarf.
Dabei ist die hohe Abhängigkeit von der Atomenergie nicht ohne Risiken. Ab dem Winter 2021 musste infolge der Entdeckung von Rissen eine ganze Serie von Reaktoren angehalten und überprüft werden. Ausgerechnet zum Zeitpunkt des russischen Angriffs auf die Ukraine fielen bis zu 30 französische Reaktoren aus. Trotzdem sprechen sich in einer aktuellen Umfrage weiterhin drei Viertel der Menschen für Atomkraft aus, sowohl hinsichtlich der CO2-arme Energieerzeugung als auch als vielversprechender Industriezweig. Die Branche generiert im Land 220.000 direkte und indirekte Jobs
Doch mit Blick auf Macrons Ziele warnte der Rechnungshof, die Branche sei trotz der begonnenen Neustrukturierung noch „weit davon entfernt, die zahlreichen Herausforderungen zu überwinden“.
Bis Anfang 2026 soll EDF entscheiden, ob es den geplanten Bau von sechs Reaktoren auch aufnimmt, die zwischen 2035 und 2038 ans Netz gehen könnten. Über die Fragen der technischen Machbarkeit hinaus muss sich jene nach der Finanzierung auch mit der EU-Kommission geklärt werden. Aus den 2022 angepeilten Gesamtkosten von 51,7 Milliarden Euro sind inzwischen knapp 80 Milliarden geworden.
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