EU-Gipfel vertagt Entscheidung über Türkei-Deal
Angela Merkel ging es beim EU-Sondergipfel in Brüssel ums Ganze: Mit der Türkei wollte sie unbedingt ein Abkommen zur Eindämmung des Flüchtlingsstromes nach Europa schließen. Doch schnell kam dieser Deal nicht zustande. Stundenlang wurde mit dem türkischen Premier Ahmet Davutoğlu verhandelt – in großer und kleiner Runde. Dann platzte Ungarn Ministerpräsident Viktor Orbán der Kragen. Er legte ein Veto gegen den Plan ein, wonach Asylbewerber direkt aus der Türkei nach Europa umgesiedelt werden sollten, sagte der Budapester Regierungssprecher Zoltán Kovács der Nachrichtenagentur Reuters.
Spät nachts folgte trotz des Widerstands der Ungarn und Bedenken einiger anderer Länder noch einmal eine Verhandlungsrunde, ein Arbeitsessen mit Davutoğlu wurde abgesagt.
Ungarn blockiert
Die Ablehnung Ungarns ist keine Überraschung, lehnt es doch seit Monaten strikt jede Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen eines Verteilungsmechanismus ab. Orbán will seine Haltung sogar mit einem Referendum zementieren.
Sollten nicht alle Eckpunte mit der
Türkei in der Nacht von Montag auf Dienstag vereinbart werden, wird nicht ausgeschlossen, dass beim
EU-Gipfel am 17. und 18. März das Thema nochmals aufgerollt wird. Im Umkreis von Merkel war zu hören, dass sie auf keinen Fall aufgeben wolle.
Kolportiert wurde auch, dass die deutsche Bundeskanzlerin zu großen Zugeständnissen der Türkei gegenüber bereit war – und so maßlose Forderungen der Regierung in Ankara provozierte. Mit diesen neuen Forderungen überraschte
Davutoğlu gestern auch die Staats- und Regierungschefs. Er verlangte mehr Geld – und bekam dann auch nicht drei, sondern sechs Milliarden Euro bis Ende 2018 zugesichert. Außerdem wird die Visa-Liberalisierung, ein Herzensanliegen der Türken, ab Juli angepeilt.
Offene Grenzen
Neben dem Türkei-Plan gab aber noch einen zweiten Punkt, für den Merkel mit Verve kämpfte. Und sie widersprach jenen, die eine Schließung der Balkanroute wollen. „Es geht nicht darum, dass irgendetwas geschlossen wird“, sagte Merkel. Unterstützt wurde sie von Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Parlamentspräsident Martin Schulz.
Scharf positionierte sich Bundeskanzler Werner Faymann gegen die Merkel’sche Willkommenskultur. „Ich bin sehr dafür, mit klarer Sprache allen zu sagen: Wir werden alle Routen schließen, auch die Balkanroute.“ Ebenso wie Faymann wetterten etliche Regierungschefs hinter vorgehaltener Hand gegen die deutsche Kanzlerin. Die Öffnung der Balkanroute komme nicht infrage, signalisierten sie Merkel.
Nationale Alleingänge
Verbissen diskutierten die Staats- und Regierungschefs über nationale Alleingänge entlang der Balkanroute. Unter Führung von EU-Ratspräsident Donald Tusk gab es eine breite Front gegen den Ansatz von Merkel, die Balkanroute frei zu halten. Er wollte die Balkanroute für Flüchtlinge geschlossen halten.
Die Formulierung wurde anpasst. Die Flüchtlingsströme entlang der Balkanroute müssen beendet werden, das Durchwinken ist nicht mehr länger möglich. Es wurde gesagt, dass Schengen-Mitglieder wie Griechenland das Schengen-Regime zu beachten haben. Das heißt, das Erst-Ankunftsland eines Flüchtlings ist für den Asylantrag zuständig.
Die Stimmung in Brüssel war wie selten zuvor bei einem Gipfel äußerst angespannt und gereizt. Nur wenig drang aus dem Verhandlungssaal im riesigen Ratsgebäude, einen Hinweis gab es aber: Im abhörsicheren Raum flogen die Fetzen.
Frankreichs Staatspräsident François Hollande und Italiens PremierMatteo Renzi kritisierten die dramatische Menschenrechtslage sowie Defizite bei der Meinungs- und Pressefreiheit der Türkei. Für beide ein Grund, den Türken die Visa-Liberalisierung nicht so rasch zu gewähren.
Zu später Stunde platzte die Meldung in die Gipfelrunde, dass nach der regierungskritischen türkischen Zeitung Zaman auch die mit dem Blatt eng verbundene Nachrichtenagentur Cihan unter staatliche Zwangsaufsicht gestellt wurde. Beide gehören einem Medienkonzern, der dem Prediger Fethullah Gülen nahesteht.
Perfide Behauptung
Empört wiesen die EU-Granden die perfide Behauptung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zurück, die EU habe noch nichts für Flüchtlinge in der Türkei bezahlt. Vergangene Woche wurden 95 Millionen Euro für Bildungsprojekte und Nahrungsmittelhilfe von der EU-Kommission freigegeben. Das Geld floss nicht direkt auf ein türkisches Konto, das war auch nie so beschlossen, sondern über das UN-Füchtlingshilfswerk.
"Mama Merkel"-Rufe
An der geschlossenen griechisch-mazedonischen Grenze appellierten unterdessen rund 200 verzweifelte Flüchtlinge an die deutsche Kanzlerin, ihnen zu helfen. Die Menschen riefen "Mama Merkel!" und hielten eine deutsche Fahne hoch, wie ein Fotoreporter der Nachrichtenagentur dpa am Montagnachmittag vor Ort beobachtete. Merkel hatte die von Österreich betriebene Schließung der mazedonischen Grenze scharf kritisiert. Österreichische Politiker zeigten sich unbeeindruckt und warfen Berlin ihrerseits Doppelzüngigkeit vor, weil es selbst Flüchtlingskontingente beschlossen habe. Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) sagte am Montagabend in einem ATV-Interview, die EU müsse "notfalls auch das Zeichen setzen, dass ein Grenze wirklich eine Grenze ist". "Gewaltszenen sind nicht angestrebt, aber da und dort unvermeidbar".
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