Zwist um Präsidenten: Widerstand gegen Juncker
Jean-Claude Juncker.
Schon im Vorfeld der Wahl war klar, wer das Heft in der Hand haben wird.Die beiden Spitzenkandidaten für die Europawahl, Martin Schulz oder Jean-Claude Juncker, werden wohl nicht auf Basis ihres Wahlerfolgs automatisch zum Kommissionpräsidenten gekürt werden - darüber werden die Staats- und Regierungschefs entscheiden; und da allen voran Angela Merkel.
Die deutsche Kanzlerin hielt sich am Wahlabend mehr als bedeckt, trotz Wahlsieges ihrer konservativen Parteikollegen. Auch am Montag gab sie sich abwartend: "Wir gehen natürlich mit dem Kandidaten Jean-Claude Juncker in die Debatte", so ihre schlichte Aussage nach den Gremiensitzungen der Christdemokraten in Berlin. Gleichzeitig verwies sie aber darauf, dass keine der beiden großen Parteiengruppen im neuen EU-Parlament alleine den Kommissionspräsidenten bestimmen könne. "Wir brauchen intensive Gespräche, und die haben noch nicht mal begonnen", sagte Merkel.
Abendessen der 28
Am Dienstagabend soll es soweit sein: Dann treffen die 28 Staats- und Regierungschefs bei einem gemeinsamen Abendessen aufeinander. Wie stark der Rückhalt Junckers dann sein wird, ist fraglich: Großbritanniens Regierungschef David Cameron hat schon Widerstand gegen den Luxemburger signalisiert, auch Ungarns Viktor Orban will Juncker nicht unterstützen.
Vor allem Cameron soll alles daran gesetzt haben, eine Sperrminorität im EU-Rat zu organisieren, berichtet der Spiegel. 93 Stimmen würden reichen, um Junckers Wahl zu verhindern.
Spekulationen über andere Kandidaten
Hartnäckig halten sich daher Spekulationen, dass doch noch Politiker wie die Chefin des Internationalen Währungsfonds, die Französin Christine Lagarde, die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt oder Finnlands Ministerpräsident Jyrki Katainen eine Rolle spielen könnten.
Auf der anderen Seite hat aber auch Martin Schulz keine Mehrheit hinter sich – obwohl er selbst den Anspruch auf das Amt des Kommissionspräsidenten noch nicht zurückgezogen hat. Selbst wenn er die Rückendeckung von Grünen und Liberalen bekäme, wäre seine Mehrheit nicht groß genug.
Berlusconi als Fallstrick?
Die dritte Option ist eine Große Koalition – und eine Unterstützung Juckers durch die Sozialdemokraten. Doch auch dann ist noch lange nicht gesagt, dass alle Staats-und Regierungschefs ihre Zustimmung geben werden.
Kenner der EU-Diplomatie halten auch Italiens Ex-Premier Silvio Berlusconi für einen möglichen Fallstrick für die Bestellung des konservativen Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker zum Kommissionschef. Dessen Partei Forza Italia könnte im EU-Parlament Juncker die Unterstützung entziehen und seine Mehrheit gefährden, sagte Poul Skytte Christoffersen am Montag in Brüssel. Nach den Berlusconi-Mandataren könnten auch weitere Abgeordnete von Juncker abrücken und damit seine Kandidatur gefährden.
Jean-Claude Juncker, der luxemburgische Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), ist der strahlende Sieger der Europa-Wahl. Mit 212 Mandaten (Stand Montagmittag) verwiesen die Konservativen die Sozialdemokraten, die auf 187 Abgeordnete kamen, auf Rang zwei. Die Liberalen sanken von 83 auf nunmehr 72 Abgeordnete. Die Grünen konnten dagegen um einen Sitz auf 55 Mandate zulegen.
Juncker ahnte seinen Sieg schon Sonntagnachmittag, hielt sich aber höflich zurück. "Ich bin froh, dass man in der Europäischen Union demokratisch und frei wählen kann. Das ist nicht in jedem Land der Welt der Fall", sagte er gegenüber dem KURIER. Am Abend war der Vorsprung der Konservativen und Christdemokraten schon eindeutig. Das veranlasste Juncker, der im Wahlkampf nie schrill gegenüber seinem sozialdemokratischen Herausforderer Martin Schulz aufgetreten war, den Anspruch auf den Präsidenten der Europäischen Kommission zu stellen. "Ansonsten ist diese Wahl ja keine richtige Wahl gewesen", sagte er in Brüssel in der Parteizentrale der EVP.
Er forderte die Staats- und Regierungschefs auf, das Ergebnis ernst zu nehmen und dabei auf das Parlament zu achten.
Martin Schulz tat sich am Abend schwer, das Ergebnis anzuerkennen. Er wolle um das Amt des Kommissionspräsidenten kämpfen. Schließlich hänge es von einer Mehrheit im Europäischen Parlament ab.
Informelles Abkommen
Die beiden großen Fraktionen im Parlament – EVP und Europäische Sozialdemokraten – haben sich im Vorfeld der Wahl informell darauf verständigt, dass der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion neuer Kommissionspräsident werden soll. Das Vorschlagsrecht für den Posten liegt jedoch bei den EU-Staats- und Regierungschefs, doch muss der Chef der Brüsseler Behörde zwingend auch vom 751-köpfigen Europaparlament mit absoluter Mehrheit (376 Stimmen) gewählt werden.
Die ersten Konsequenzen aus dem Resultat der EU-Wahlen werden die Staats- und Regierungschefs bei einem Sondergipfel am Dienstagabend ziehen. Sie kommen zu einem Abendessen in Brüssel zusammen und werden die Weichen für die Nominierung des Kandidaten und für andere EU-Top-Jobs stellen.
Wen das Brüsseler Geschehen nicht mehr sonderlich tangiert, ist der noch amtierende Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Er verlässt nach zwei Perioden Brüssel und kehrt nach Lissabon zurück.
43 Prozent nahmen teil
Große Euphorie war am Wahlsonntag bei den rund 400 Millionen Stimmbürgern in der EU aber nicht zu spüren. Die Wahlbeteiligung blieb in etwa gleich wie im Jahr 2009, wo sie bei 43 Prozent lag. Gerade in einigen osteuropäischen Ländern, die 2004 EU-Mitglied wurden, blieben die Wähler in Scharen zu Hause. Begeisterung für die EU und für die Arbeit des Europäischen Parlaments schaut anders aus.
Die genaue Wahlbeteiligung wird man erst heute Abend wissen, wenn die Wahlkarten in allen Mitgliedsländern ausgezählt sind.
In sieben Ländern konnten die Wahlbürger schon in den vergangenen Tagen wählen, mit der Veröffentlichung der Resultate mussten sie aber warten.
Insgesamt waren in 28 Ländern rund 400 Millionen Menschen dazu aufgerufen, über 751 Abgeordnete zu bestimmen. Auch die Spitzenkandidaten von EVP und SPE, Juncker und Schulz, konnten der EU keine Flügel verleihen. Sie verstehen das Geschäft, sind alte Hasen in Brüssel, doch die Wahlbeteiligung konnten sie kaum steigern.
Fraktionswechsel
Welche von den beiden großen Fraktionen EVP und SPE letztendlich die meisten Mandate hat, wird sich am Mittwoch zeigen. Dann nämlich werden die Fraktionen gebildet, einige kleinere Parteien haben schon angedeutet, wechseln und sich einer anderen Fraktion anschließen zu wollen. Die Frage ist auch, wohin die Tories gehen, sie waren zuletzt nicht bei der EVP, sondern gehörten der EU-skeptischen konservativen Fraktion ECR an.
In Deutschland kam es Sonntag zum ersten Streit zwischen CDU/ CSU und SPD. Beide Parteien beanspruchten den Kommissionspräsidenten. Für den deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger muss Juncker Kommissionspräsident werden, das sei eine "logische Folge". In nächster Zeit, so ein Insider, "wird es in der EU-Zentrale und in den Parteibüros noch hektisch werden".
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