Die Türkei ist schon jetzt Siegerin im Poker mit der EU

Treffen zwischen Vertretern der EU und der Türkei in Brüssel am 07.03.2016.
Beim Sondergipfel der EU wurden Eckpunkte mit Ankara vereinbart. Der Widerstand gegen den Deal ist groß. Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.

Was konkret wurde beim EU-Sondergipfel mit der Türkei beschlossen? Noch nichts Konkretes. Die 28 Staats- und Regierungschefs, EU-Kommissionschef Juncker und der türkische Premier Davutoğlu vereinbarten Eckpunkte, über deren Inhalt bis zum Gipfel am 17. und 18. März EU-Beamte verhandeln.

  • Was sind die Eckpunkte?

Sechs Milliarden Euro bis Ende 2018 für die Betreuung von Flüchtlingen in der Türkei. Eine völlige Visa-Liberalisierung ab Ende Juni dieses Jahres, auch wenn die Bedingungen dafür noch nicht erfüllt sind. Die Rückführung aller Migranten, die unerlaubt aus der Türkei auf griechische Inseln übersetzen (die Kosten dafür trägt die EU). Für jeden syrischen Flüchtling, der aus Griechenland zurück in die Türkei kommt, nimmt die EU einen syrischen Flüchtling aus der Türkei auf ("Eins-zu-Eins-Formel"). Dann wurde noch vereinbart, die Erweiterungsverhandlungen mit der Türkei rasch fortzuführen.

  • Wie sollen die Rückführungen aus Griechenland und danach der Austausch der Flüchtlinge zwischen Türkei und EU-Staaten funktionieren?

Das ist – neben der Visa-Liberalisierung – wohl der umstrittenste Punkt. Gegen die kollektive Rückführung von griechischen Inseln gibt es schwere rechtliche Bedenken, das UNHCR kritisiert das Vorhaben massiv. Die Übernahme der Flüchtlinge aus der Türkei ist derzeit unmöglich, weil es unter den 28 EU-Regierungen keine Einigung über Kontingente bzw. eine solidarische Lastenverteilung gibt. Ungarn hat ja beim Sondergipfel ein Veto dagegen eingelegt (siehe Bericht rechts). Auch Österreich ist nicht bereit, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen, erklärte mehrmals Verteidigungsminister Doskozil.

  • War der Gipfel ein Durchbruch auf dem Weg zu einer nachhaltigen Lösung des Flüchtlingsproblems?

Nein, weil nichts gelöst bzw. beschlossen ist und der Flüchtlingsstrom aus der Türkei nach Griechenland weiter anhält. Im Februar 2016 kamen 56.000 Personen (zum Vergleich: Im Juli 2015 waren es laut UNHCR rund 55.000).

Eine Grafik zum EU-Türkei-Flüchtlingsdeal mit Pfeilen, die Migrationsrouten darstellen.
  • Wird es noch einen Pakt EU-Türkei geben?

Ein Abkommen im gegenseitige Interesse, wie es heißt, wird angestrebt, um den Flüchtlingsstrom von der Türkei über Griechenland nach Mitteleuropa deutlich einzudämmen. Die Türkei gilt wegen ihrer geografischen Lage als "Schlüsselland" in der Flüchtlingspolitik. Ob ein Abkommen zustande kommt, hängt vom Ergebnis des EU-Gipfels am 17. und 18. März ab. Bundeskanzler Merkel spricht bereits jetzt von einem "Durchbruch". Andere EU-Regierungschefs sind vorsichtiger.

  • Wer sind die Skeptiker eines Abkommens der EU mit der Türkei?

Ganz sicher Bundeskanzler Faymann, er zweifelt an der Handschlagqualität türkischer Politiker. Staatspräsident Hollande lehnt eine rasche Visa-Liberalisierung ab. Italiens Ministerpräsident Renzi will keinen Deal unterschreiben, solange Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei nicht garantiert sind.

  • Wie viel EU-Gelder hat die Türkei bisher erhalten?

Als EU-Kandidat stehen der Türkei "Vorbeitrittsgelder" zu, von 2014 bis 2019 sind es 4,5 Mrd. €. Für syrische Flüchtlinge gab es ab 2011 rund 365 Mio., 3 Mrd. € sind von der EU für Flüchtlinge zugesichert, 95 Mio wurden bereits ausbezahlt.

  • Wie viele Flüchtlinge hat die Türkei?

UNO-Statistiken weisen drei Millionen aus, davon sind 2,5 bis 2,7 Millionen syrische Kriegsflüchtlinge. Der Rest kommt aus dem Irak, Afghanistan und anderen Ländern.

Der Plan mit der Türkei war fix und fertig verhandelt und lag Montagmittag auf dem Tisch. Dann erreichte Premier Davutoğlu ein wütender Anruf aus Ankara: Der sultaneske Präsident Erdoğan diktierte neue Wünsche an die EU, maßlose Forderungen folgten (siehe rechts), Davutoğlu gehorchte – und drohte, Hilfslieferungen nach Syrien zu stoppen, sollten die Anliegen abgeschmettert werden. Chaos brach in der Gipfelrunde aus. Stundenlange Vieraugen-gespräche folgten, Bundeskanzlerin Merkel sagte zu allem Ja, sie wollte unbedingt den Pakt mit der Türkei. Bis auf Kommissionschef Juncker und den EU-Ratsvorsitzenden, den Niederländer Rutte, versagten Merkel alle die Gefolgschaft, auch Frankreichs Staatschef Hollande verstand die deutsche Partnerin nicht mehr. Die offene Isolierung behagte der unter Druck stehenden Kanzlerin nicht. Ein "Turkish dinner" wurde vereinbart, um das Abkommen zu besiegeln. Bevor es dazu kam, tobte Ungarns Premier Orbán. Aus Prinzip lehnt er eine Umverteilung syrischer Flüchtlinge aus der Türkei ab. Kurz vor 21.00 Uhr erfolgte sein Veto via Twitter. Damit wollte er ein spektakuläres Scheitern des Türkei-Deals provozieren. Das gelang ihm teilweise, selbst Orbán-Gegner wie Kanzler Faymann und Präsident Hollande waren ihm dankbar. Merkel erzwang eine neue Verhandlungsrunde bis in die Nacht. Da ging es nur noch um gesichtswahrende Formulierungen und den Versuch, zu erklären, warum die Lösung der Flüchtlingsfrage nur mit der Türkei gelingen könne. Mit dem Satz, "es gibt keine Alternative", hat sich Merkel der Türkei untergeordnet. "Die Strategie der Erpressung geht aber weiter", folgerte ein französischer Diplomat.

Grauer Nebel hängt Dienstagfrüh über Hunderten durchnässten Zelten, wo seit Tagen Tausende Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze bei Idomeni ausharren. Es hat geschüttet in der Nacht. "Der Regen hat zwei, drei Stunden gedauert, und jetzt sind einige der kleineren Zelte kaputt. Viele Familien sind gerade ohne Dach über den Kopf", sagte vor Ort ein UNHCR-Sprecher zum KURIER. Riesige Wasserlacken bedecken den Boden. Müll und Spielzeuge sind überall verstreut. Am Grenzzaun hängt Wäsche. "Diese Lage scheint immer mehr zu einem Dauerzustand zu werden, wir versuchen gerade, die Leute trocken zu kriegen", sagt Gemma Gillie von der Hilfsorganisation "Ärzte Ohne Grenzen" (MSF).

Ein Zeltlager im Nebel mit stehendem Wasser auf dem Boden.
Laut NGOs sind bereits 15.000 Leute vor Ort, und Hunderte kommen täglich dazu. Darunter sind viele Familien mit Kleinkindern und schwangere Frauen. Laut UNHCR machen Frauen und Kinder zwei Drittel der Bevölkerung des Notlagers aus. In der Nacht sinken die Temperaturen bei Idomeni auf 0 Grad, um tagsüber auf bis zu 20 Grad zu steigen. Unter diesen Temperaturschwankungen leiden vor allem Kinder – immer mehr werden krank.

Trotzdem will keiner das Lager verlassen. Alle hoffen, nach Mittel- und Nordeuropa reisen zu dürfen. Skopje lässt aber weiter nur wenige Dutzend Syrer jeden Tag passieren. Die Verzweiflung steigt. "Was soll ich machen? Ich bleibe da, und wenn sie uns nicht durchlassen, verbrenne ich mich", sagt ein junger Afghane der Nachrichtenagentur ANA. Mit seiner Familie warte er seit 20 Tagen an der Grenze. Menschenrechtsorganisationen und Freiwillige bemühen sich, allen zu helfen, so gut es geht. MSF hat zwei große Zelte für insgesamt 400 Menschen, einige Hundert kleinere sowie Toiletten aufgestellt. Das ist nicht genug. "Die Zelte reichen nicht aus, es kommen immer mehr Leute", klagt Gillie. Die griechische Regierung hat weitere Lager in der Nähe versprochen.

"Ein Schritt vorwärts"

Der EU-Türkei Gipfel zur Flüchtlingskrise in Brüssel am Montag hat auch keine schnelle Lösung der Flüchtlingskrise gebracht. Der griechische Premier Alexis Tsipras hat ihn diplomatisch als "einen Schritt vorwärts" beschrieben. Die Türkei habe einige "verlockende Vorschläge" gemacht – überraschend viele, so Tsipras laut ANA. Sein Europaminister Nikos Xydakis zeigte sich weniger begeistert. "Wir haben keine Einigung erzielt, weil die türkischen Vorschläge von der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten als extrem radikal empfunden wurden", sagte er nach dem Gipfel.

Athen hatte bereits zuvor mehr auf das Treffen zwischen Tsipras und seinem türkischen Kollegen Ahmet Davutoglu am Dienstag in der türkischen Mittelmeermetropole Izmir gesetzt. Der Ort ist symbolisch: Aus der Gegend starten die meisten Boote mit Flüchtlingen nach Griechenland. Seit Anfang des Jahres waren es laut UNHCR über 130.000 Menschen, die diese Route nahmen. Tsipras und Davutoglu wollten in Izmir die Aktualisierung eines 2002 geschlossenen bilateralen Abkommens über die Rückführung von Migranten besprechen. Nach dem Treffen betonten beide in einer Pressekonferenz, die Zusammenarbeit vertiefen zu wollen.

Im April sollen am Brenner Grenzkontrollen eingeführt werden. Bei einem Treffen zwischen Tirols Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) und Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) gab es dann am Dienstag auch ein alles überlagerndes Thema: die Flüchtlingskrise.

Seehofer war im Anschluss an das Gespräch voll des Lobes für die Maßnahmen, die Österreich und die Balkanstaaten zuletzt ergriffen haben. "Wenn jetzt weniger Flüchtlinge kommen, dann ist das nicht auf Entscheidungen der deutschen Regierung zurückzuführen", sagte Seehofer.

Horst Seehofer gestikuliert neben einem Mann mit Brille vor der bayerischen Flagge.
epa05201089 Germany's Bavaria state governor Horst Seehofer (R) gestures as he welcomes the Austrian Tyrol state governor (Landeshauptmann) Guenther Platter (L) of the OeVP party for talks at the Bavarian Chancellory in Munich, Germany, 08 March 2016. EPA/PETER KNEFFEL
Einen Tag nach dem EU-Gipfel in Brüssel mit der Türkei wollte der streitbare Landeschef Bayerns die Grundsatzeinigung noch nicht bewerten. Um sie aber sogleich zu zerpflücken. "Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung müssen stimmen." Bayern würde zwar alle Maßnahmen, die Flüchtlingszahlen wirksam reduzieren, begrüßen. "Dazu gehört nicht die Vollmitgliedschaft der Türkei und auch keine volle Visa-Freiheit."

Platter verteidigte einmal mehr das geplante Grenzmanagement an der Südgrenze Österreichs. Auch der Gipfel in Brüssel habe keine Aussicht gebracht, dass sich am Flüchtlingsstrom etwas ändern wird. "Das zwingt uns zu nationalen Maßnahmen", betonte der Landeshauptmann.

Wenig Freude hat Platter mit dem Grenzmanagement der Deutschen bei Kufstein. Hier wird derzeit nur ab einer Staulänge von fünf Kilometern eine zweite Kontrollspur geöffnet. Dass die ständig geöffnet sein sollte, darin waren sich die beiden Länderchefs einig. Seehofer versprach, sich für diese Erleichterung einzusetzen. Mehr als fordern kann er in diesem Fall aber auch nicht.

Kommentare