Doch mit dem 16. November 1989 ist alles anders: In Bratislava gehen Studenten auf die Straße – und die Polizei schaut weg. Am Tag darauf demonstrieren 15.000 vorwiegend junge Menschen in Prag und fordern Freiheit. „Geht, bevor ihr rennen müsst“, ist auf Transparenten zu lesen. Diesmal greifen die Sicherheitskräfte gewaltsam ein, es gibt Hunderte Verletzte und zahllose Verhaftungen. Doch die Welle ist nicht mehr aufzuhalten: Studenten rufen zum Streik auf, Künstler schließen sich an, in Theatern wird nicht mehr gespielt, sondern diskutiert. Der Dissident und Untergrunddichter Vaclav Havel übernimmt die Führung.
Die Proteste weiten sich auf andere Städte aus. Im ganzen Land gehen Menschen mit klingenden Schlüsselbunden auf die Straße – es ist ihr Symbol des Widerstandes. Einige Tage lang ist nicht klar, ob Polizei und Volksmiliz durchgreifen würden. Die alles entscheidende Frage ist vor allem, ob sich die Arbeiter der großen Fabriken den Demonstranten anschließen. Einer der Arbeiterführer von damals, Petr Miller, wird später Sozialminister.
Die meisten westlichen Journalisten berichten 1989 aus Prag, ich fahre in meine alte Heimatstadt Bratislava (Pressburg), aus der ich 1968 geflüchtet bin. Ich reise als Hausfrau ein, als Journalistin hätte ich kein Visum bekommen. In der ganzen Stadt liegt Spannung in der Luft. Die grauen Straßen sind untertags leer, ab dem Nachmittag füllt sich der ehemalige Stalinplatz (heute Platz der Samtenen Revolution). Von Tag zu Tag wird die Menge größer. Studenten halten die Kunstakademie besetzt, fertigen dort Plakate und Werbetafeln an. Meist ältere Pressburger versorgen sie mit Verpflegung und Schlafsäcken.
Vis-à-vis – im sogenannten Mozart-Haus, wo die Hochschule für Marxismus-Leninismus und später die österreichische Botschaft untergebracht ist – wird die Revolutionszentrale eingerichtet. Die neu gegründete Bewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ (das Pendant zum tschechischen „Bürgerforum“) sammelt Unterschriften gegen die allmächtige Rolle der Kommunistischen Partei. Studenten fahren hinaus aufs Land, um die Bevölkerung von den Vorkommnissen zu informieren. Denn die staatlichen Medien trauen sich noch nicht, offen und ehrlich zu berichten.
Im Barockpalais, in dem einst Mozart musizierte, herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Ein Mann stürmt plötzlich atemlos herein: Aus der „Februarka“, der Geheimdienstzentrale, würden Kartons mit Akten weggebracht. Keiner weiß so recht, was nun zu tun ist. Aber allen ist klar: Die Geheimdienstler beginnen sich zu fürchten und vernichten belastende Karteien.
Plötzlich bricht Jubel aus: Vier aus dem Gefängnis freigelassene Regimegegner kommen ins Mozart-Haus, werden umarmt und gefeiert. Einer von ihnen, Ján Carnogursky, bekommt eine Krawatte um den Hals gehängt und wird als slowakischer Abgesandter nach Prag geschickt. Ich mache ein Foto von ihm, das der KURIER später viele Male an die westliche Presse verkaufen kann. Aus dem Dissidenten Carnogursky wird nur 14 Tage später der erste Vizepremier der Tschechoslowakei.
Am 10. Dezember 1989 passiert das Unvorstellbare: Der Eiserne Vorhang fällt nun auch in der Tschechoslowakei. Die Grenze ist offen, jeder darf ohne Visum ein- und ausreisen. 100.000 Pressburger brechen zu einem Freudenmarsch nach Hainburg an der Donau auf. „Die Tschechen kommen“, titelt der KURIER. Trotz heftiger Einwände meinerseits kann ich die Kollegen in Wien nicht davon überzeugen, dass es sich eigentlich um Slowaken handelt. Diese internationale Nichtsichtbarkeit der Slowakei wird später mit ein Grund für die Teilung der Tschechoslowakei sein.
KURIER auf Slowakisch gratis verteilt
Einige Tage später lässt mich der damalige Chefredakteur Franz Ferdinand Wolff zu sich rufen: „Ab sofort erscheint eine KURIER-Ausgabe auch auf Slowakisch, als Zeichen unserer Sympathie für die Nachbarn. Und Sie gestalten bitte das Blatt.“ Die Ausgabe, die auch praktische Tipps für den Aufenthalt im Westen enthält, wird jeden Tag nach Bratislava und ins nahe Grenzland transportiert und gratis verteilt. Die Leser reißen uns die Zeitung aus den Händen.
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