Bulgaren wählen neue Regierung

Wissen Sie, wir mögen hier keine ausländischen Journalisten. Sie kommen und filmen unsere schmutzigsten Kinder, unsere erbärmlichsten Häuser und zeigen dann der Welt, wie arm wir sind. Aber hier leben Menschen, die Würde haben, nicht Tiere im Zoo“, sagt Dancho Tasew. Der 35-jährige Rom wohnt in der „Fakultät“, dem größten Roma-Getto in Sofia. „Von den Wahlen am Sonntag erwarte ich genau nichts, außer ein paar gratis Cevapcici.“
Es ist schwierig im Viertel schöne Plätze zu finden. Die Straßen sind nur teilweise asphaltiert. Weil nicht jedes Haus mit der städtischen Kanalisation verbunden ist, riecht es in manchen Gassen wie in einer öffentlichen Toilette. Die meisten Häuser wurden ohne Baugenehmigung errichtet.
Hier und da überragt ein luxuriöses Haus alle anderen, mit griechischen Säulen vor dem Eingang und Stacheldraht auf dem Zaun. Woher das Geld für diese Häuser komme, will keiner so genau wissen. Über 80 Prozent der Einwohner sind arbeitslos, fast alle gehören der Roma-Minderheit an.
Arm neben reich
Bulgarien ist das ärmste Land der EU. Der Mindestlohn beträgt 150 Euro im Monat. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 18 Prozent, bei unter 25-Jährigen bei 38 Prozent.
Nur sieben Kilometer vom Armenviertel entfernt reihen sich teure Jeeps und Audis im Stadtzentrum aneinander. Die Logos von österreichischen Banken, Versicherungen und Tankstellen strahlen von blank geputzten Hausfassaden. In keiner anderen EU-Hauptstadt spürt man die Kluft zwischen Arm und Reich so stark wie hier in Sofia. Die chic gekleideten Gäste der Nobellokale im Zentrum bezahlen für ein Mittagessen so viel, wie die Roma in der „Fakultät“ für fast alle Mittagessen des Monats.
Eine obdachlose Frau mit unzähligen Plastiksackerln bittet einen Kaffeehausgast auf Sofias schönster Einkaufsstraße Vitosha um Almosen. Der Mann scheucht sie ohne aufzublicken mit einer Handbewegung weg. Armut und Hunger möchte in diesem Teil der Stadt niemand sehen.
Am Sonntag wählt Bulgarien nach dem Regierungsrücktritt im Februar ein neues Parlament. Nach den Massenprotesten scheint die Euphorie der Bevölkerung jedoch verflogen: „Ich werde wählen gehen, aber ich glaube nicht, dass sich irgendetwas ändern wird“, sagt Ekaterina Taschkova. „Ich will nur dem Staat und seinen Institutionen vertrauen können und das kann ich jetzt nicht“, resigniert die 65-jährige Dolmetscherin Maya Stefanova.
„Die Menschen sind Realisten geworden, deshalb haben sie das Vertrauen in die Politik verloren“, sagt der Meinungsforscher Petar Jivkov. Er erwartet eine Wahlbeteiligung von etwa 60 Prozent. „Bulgarien steht nicht so schlecht da, wie die Leute glauben. Seit dem Beitritt hat sich einiges zum Positiven verändert. Aber im direkten Vergleich mit anderen EU-Ländern schneiden wir schlecht ab“, sagt er.
Am 20. Februar steigt Plamen Goranov die Stiege des regionalen Landtags von Varna empor. Er trägt ein Plakat bei sich, auf dem er den Rücktritt regionaler Politiker fordert, und eine Tube mit Benzin. Er zündet sich selbst an und erliegt Tage später seinen Verletzungen. Der 36-jährige Plamen ist zur tragischen Figur der Februar-Proteste in Bulgarien geworden.
Selbstverbrennungen
Der Arbeitslose aus Varna ist nur einer von fünf Menschen, die sich aus Verzweiflung angezündet haben. Hunderttausend sind damals auf die Straße gegangen, um gegen hohe Stromrechnungen und Armut zu demonstrieren. „In welchem EU-Land geht fast die Hälfte des Lohns nur für Strom drauf?“ klagt die Sekretärin Silvia Naidenova aus Plovdiv. In dieser Region versorgt der österreichische Stromanbieter „EVN“ ein Drittel der Haushalte mit Strom. Die Wut der Bürger hat den Konzern hart getroffen – Demonstranten haben zwei Firmenautos in Brand gesteckt.
Die Massenproteste haben die Regierung in die Knie gezwungen, und der damalige Ministerpräsident Boiko Borissow hat am 20. Februar sein Amt niedergelegt.
Heute sollen 3,8 Millionen Bulgaren eine neue Regierung wählen, und trotz allem führt Borissows GERB-Partei erneut in den Umfragen. 41 Prozent der Bulgaren aber glauben ohnehin nicht an faire Wahlen. „Wir haben einfach niemanden, den wir guten Gewissens wählen können“, sagt der Pensionist Stoian Iliev.
Bulgarien führt zahlreiche internationale Negativstatistiken an: Ärmstes Land der EU, EU-Land mit der geringsten Pressefreiheit, hohe Korruption und eine Schattenwirtschaft mit einem Anteil von 31-Prozent am BIP.
Hinzu kommt, dass der Wahlkampf nach dem Regierungsrücktritt in Februar von zahlreichen Skandalen begleitet wurde. Ex-Landwirtschaftsminister Miroslav Naidenov warf Ex-Innenminister Zwetan Zwetanov vor, dass dieser ohne Genehmigung der Staatsanwaltschaft Minister und Politiker abhören ließ. Auch Ex-Ministerpräsident Boiko Borissow blieb von der Abhöraffäre nicht verschont.

Dennoch steht Bulgarien im internationalen Vergleich relativ gut da. „Der bulgarische Markt ist ein stabiler Wachstumsmarkt mit viel Potenzial“, sagt Michael Angerer, Leiter des Außenwirtschaft-Centers der WKO in Sofia. Für heuer werde ein Wirtschaftswachstum von einem Prozent erwartet.
Österreich ist Nummer-zwei-Investor in Bulgarien: Etwa 400 österreichische Unternehmen haben hier eine Niederlassung.
Tatsächlich ist das Land mit einer Staatsschuldenquote von 16,3 Prozent des BIP und dem erwarteten Nulldefizit für 2013 ein Musterschüler der EU. Zum Vergleich: Die Schuldenquote in Österreich liegt bei 72 Prozent des BIP. Kritiker werfen der Regierung unter Borissow jedoch vor, die Verschuldung auf Kosten des Sozialsystems so niedrig gehalten zu haben.
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