Parlaments-Zwangspause: Ringen vor britischem Höchstgericht

Parlaments-Zwangspause: Ringen vor britischem Höchstgericht
Rechtsstreit gilt als beispiellos - Entscheidung der Richter frühestens für Freitag erwartet.

Über die von Premier Boris Johnson im Ringen um den Brexit verfügte Zwangspause für das Unterhaus wird nun vor dem Obersten Gerichtshof Großbritanniens verhandelt. Der Rechtsstreit gilt als beispiellos in der britischen Verfassungsgeschichte. Vor elf Richtern des Supreme Court in London begann am Dienstag die auf drei Tage angesetzte Anhörung. Eine Entscheidung wird frühestens am Freitag erwartet.

Johnson hatte das Parlament von 10. September bis 14. Oktober in den Urlaub geschickt. Kritiker warfen ihm vor, er wolle damit die Abgeordneten davon abhalten, seinen Brexit-Kurs für ein Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union am 31. Oktober zu durchkreuzen. Johnson will dafür notfalls einen ungeregelten Brexit in Kauf nehmen.

Ein schottisches Gericht hatte die Parlamentsschließung in der vorigen Woche für unzulässig erklärt. Die Regierung legte Berufung gegen das Urteil ein. Die rechtliche Frage ist nicht einfach zu klären, weil es in Großbritannien keine geschriebene Verfassung gibt, die beispielsweise die Kompetenzen des Regierungschefs klar abgrenzen würde.

Die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Brenda Hale, sagte, die Schwierigkeit der Frage werde schon allein dadurch veranschaulicht, dass das Gericht in Schottland zu einer anderen Entscheidung gekommen sei als ähnliche Gerichte in England und Wales. Für solche schwierigen Fragen sei der Oberste Gerichtshof gemacht.

Zwei Klagen

Konkret geht es vor Gericht um zwei Klagen: eine der Anti-Brexit-Aktivistin Gina Miller und eine von 78 Parlamentariern. Millers Klage, die von dem früheren konservativen Premierminister John Major unterstützt wird, war Anfang September von einem Londoner Gericht abgewiesen worden, die Richter ließen aber eine Berufung beim Obersten Gerichtshof zu.

Die Obersten Richter beschäftigen sich auch mit dem Fall der 78 pro-europäischen Parlamentarier unter der Führung der schottischen Abgeordneten Joanna Cherry, die in erster Instanz verloren hatten, in zweiter Instanz in der vergangenen Woche aber vor einem schottischen Berufungsgericht Recht bekommen hatten. Die britische Regierung legte umgehend Berufung ein.

Es wird erwartet, dass die Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof drei Tage dauert. Am ersten Tag sollten die Anwälte der Kläger gehört werden. Am Mittwoch antworten die Vertreter der Regierung. Am dritten Tag wird unter anderem Ex-Premier Major angehört. Nach Einschätzung von Rechtsexperten müsste die Zwangspause sofort aufgehoben werden, falls die Richter sie für unzulässig erklären.

Schwere Vorwürfe

Johnsons Entscheidung, dem Parlament vor dem für den 31. Oktober geplanten EU-Austritt Großbritanniens eine fast fünfwöchige Sitzungspause aufzuerlegen, hatte landesweite Proteste hervorgerufen. Kritiker hielten dem konservativen Regierungschef vor, das Parlament aushebeln zu wollen und so die Demokratie zu untergraben.

Dieser Argumentation folgte das schottische Berufungsgericht. Es erklärte die Zwangspause für "illegal", weil es deren offensichtliches Ziel sei, "das Parlament zu behindern".

Die Gerichtsanhörung begann am Dienstag von Protesten begleitet. Vor dem Gerichtsgebäude im Londoner Regierungsviertel in Westminster versammelten sich Demonstranten, darunter ein als grünes Muskelmonster Hulk verkleideter Pensionist. Johnson hatte kürzlich einen skurrilen Vergleich zwischen dem Comic-Helden und Großbritannien gezogen. "Hulk ist immer entkommen, egal wie eng gefesselt er war - und so ist das auch mit diesem Land." Der als Hulk verkleidete David sagte der Deutschen Presse-Agentur (dpa): "Wir müssen unsere Demokratie beschützen."

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Eine Frau hatte sich den Mund zugeklebt und hielt ein Schild in den Händen, auf dem "Kein Parlament, keine Stimme" stand. "Wir wollen unser Land zurück", rief ein anderer Demonstrant. "Sie haben die Queen getäuscht", stand auf dem Schild einer Frau. Johnson wird vorgeworfen, er habe Königin Elizabeth II. für seine politischen Zwecke belogen, um die Zwangspause durchzudrücken.

Aber auch einige Dutzend Brexit-Befürworter warteten vor dem Gericht. Drei Jahre nach dem Referendum müssten die Parlamentarier endlich den Brexit liefern, sagte der 56 Jahre alte Lee.

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Der Streit berührt den Kern der britischen Verfassung. Anders als in vielen anderen Ländern handelt es sich dabei nicht um ein einzelnes Dokument, sondern um eine ganze Reihe von Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Konventionen. Die Verfassung entwickelt sich durch Gesetzgebung oder neue Interpretationen bestehender Regeln ständig weiter und wird neuen Verhältnissen angepasst. Manchmal ist daher auch die Rede von einer politischen Verfassung.

Das Funktionieren dieses Systems ist davon abhängig, dass sich alle Akteure an bestimmte ungeschriebene Regeln halten. Aus Sicht seiner Kritiker hat Johnson gegen dieses Prinzip verstoßen, weil er die Parlamentsschließung als politisches Mittel eingesetzt habe, um notfalls einen EU-Austritt ohne Abkommen gegen den Mehrheitswillen der Abgeordneten zu erreichen.

Die Richter müssen nun entscheiden, ob sich das Parlament beispielsweise durch neue Gesetzgebung selbst gegen die angebliche Grenzüberschreitung der Regierung zur Wehr setzen kann oder ob ein Einschreiten der Justiz geboten ist. Gegebenenfalls müssten sie selbst auch noch einmal bewerten, ob Johnson das Mittel der Parlamentspause verfassungswidrig eingesetzt hat.

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