Kia EV6: „Ein Elektroauto für Auto-Enthusiasten“
Die Fotos vermitteln nur die halbe Wahrheit. Steht man dem neuen Kia EV6 einmal Auge in LED-Scheinwerfer gegenüber, erschließt sich erst die enorme Dimension des Sprungs nach ganz weit vorne, den der Kia EV6 für die Marke aus dem Hyundai-Konzern markiert.
Und das in jeder Hinsicht. Von der neuen Designlinie bis zum technischen Package.
Was die Optik betrifft, berichtet Luc Donckerwolke - nach einer kurzen Auszeit zum Hyundai-Konzern als Chief Creative Officer zurückgekehrter Design-Guru - im Gespräch am Rande der physischen Präsentation im Kia-Designcenter in Frankfurt, dass man für den EV6 von Beginn an einen ganz klaren Weg verfolgt hat: „Das sollte ein Elektroauto für Auto-Enthusiasten werden.“
Sieht der Belgier, der unter anderem schon bei Lamborghini, Bentley und Seat seine eindrucksvollen Spuren hinterlassen hat, bei den meisten reinen E-Autos eher Defizite, was emotionale Formgebung angeht, so sollte jener Kia, der die neue Richtung für die Marke vorgibt, vollkommen anders aussehen. Oder wie es Gregory Guillaume, der Leiter des europäischen Designcenters von Kia in Frankfurt plakativer ausdrückt: „Wir wollten kein fahrendes Haushaltsgerät mit Stecker machen!“
Dem ersten Eindruck nach, den ein Vorserienmodell des EV6 auf den Betrachter macht, der das Glück hat, ihn nicht nur als gestreamtes Video-Signal erleben zu können, scheint das vollinhaltlich gelungen. Technisch angelegt als Crossover-Modell, haben die Kia-Designer aus dem EV6 optisch einen Sportwagen gemacht. Dieser gewollte Eindruck wird unterstützt von dem enormen Radstand von 2,9 Metern (80 cm mehr als beim Kia Sorento), den mächtigen Rädern (19 bis 21 Zoll werden zur Wahl stehen) und der vergleichsweise niedrigen Fahrzeughöhe von 1,55 Metern bei einer Länge von 4,68 Metern.
Hat man im Cockpit Platz genommen, zeigt sich, dass bei der Gestaltung des Innenraumes auch die Ergebnisse von Kundenbefragungen einen wesentlichen Einfluss hatten. So widerstand man der Versuchung, vor lauter futuristischer Anmutung, alle Bedienelemente in einem einzigen großen Touchscreen zu verräumen. Den notwendigen Hauch Modernität spendiert der zum Fahrer hin gebogene Monitor. Die schnöde Funktionalität der Bedienung wird durch eine ausgelagerte Schalterleiste samt physischen Drehknöpfen für die Einstellung etwa der Klimaanlage gewährleistet.
Der Preis für die Sportlichkeit
Bezieht man die zweite Reihe (der EV6 ist als Fünfsitzer ausgelegt), merkt man allerdings, dass die sportliche Geducktheit der Karosse auch ihren Preis hat. Zwar glänzt der Fond des EV6 dank des langen Radstandes mit üppiger Beinfreiheit, die Sitzflächen selbst sind aber sehr tief auf dem Innenraumboden angebracht. Das führt zu einer geringen Schenkelauflage für Erwachsene, was auf längeren Strecken unbequem werden kann. Die Lösung des Problems hätte nur in einer Anhebung des Daches liegen können (unter dem Fußboden sind die Batterien verbaut). Das hätte aber nicht nur der sportlichen Linie, sondern durch einen größeren Frontquerschnitt der Karosserie auch den Verbrauchswerten geschadet.
Dabei zählt das Antriebskonzept des Kia EV6 zu seinen ganz großen Stärken. Mit der vollkommen neu entwickelten E-Auto-Plattform E-GMP (Electric-Global Modular Platform), auf der auch das erste Modell der neuen Elektroauto-Marke des Konzerns – der Ioniq 5 – basiert, haben die Koreaner die Latte für die Konkurrenz diesseits der Luxus-Liga ein deutliches Stück nach oben gelegt.
100 km Reichweite in 5 Minuten
So bietet der Kia EV6 nicht nur die Wahl zwischen mehreren verschieden starken Antriebs-Konfigurationen von 125 kW bis 430 kW Leistung mit wahlweise Zwei- oder Allradantrieb und zwei Batterievarianten (58 bzw. 77,4 kWh). Alle Versionen können auch mit 400 V oder 800 V geladen werden, was man bisher nur in der Luxusliga findet. Damit gilt die Formel 80 % Ladeleistung in 18 Minuten bzw. 100 km Reichweite in fünf Minuten.
Das aufwändige Lademanagement erkennt nicht nur selbsttätig, wann der EV6 an welcher Art von Schnellladesäule angeschlossen ist. Es ist zudem darauf ausgerichtet, Strom nicht nur aufzunehmen, sondern diesen über das Ladekabel auch abzugeben. Stolz rechnet man vor, dass man auf diese Weise mit der Fahrzeugbatterie einen 55-Zoll-Fernseher und eine Klimaanlage für 24 Stunden betreiben könnte.
Was neue Perspektiven für den Stromausfall zu Hause eröffnet, bringt aber auch die Möglichkeit, als Pannenhelfer für andere E-Auto-Fahrer zu agieren, denen fernab von der nächsten rettenden Ladesäule der Batteriestand in den kritischen Bereich gesackt ist.
Das geht dann zwar entschieden auf die eigene Reichweite, die soll jedoch im Normallfall bei durchaus beruhigenden Werten liegen. So werden Maximalreichweiten nach WLTP zwischen 394 km und über 500 km je nach Batterie-/Antriebskonfiguration angegeben.
Der Strom dafür kommt aber nicht nur aus der Steckdose. Für den Grad der Rekuperation der Bremsenergie im Fahrbetrieb stehen dem Piloten gleich fünf verschieden starke Stufen zur Verfügung (vom Segeln bis zum Ein-Pedal-Fahren), die er via Schaltwippen am Lenkrad flexibel anwählen kann.
Der Kia EV6, der laut Luc Donckerwolke praktisch um das neue, futuristische und extrem dünne Kia-Logo herum entwickelt wurde („Das Auto hätte mit dem alten Logo nie so aussehen können!“), wird im Oktober bei uns an den Start gehen. An den Preisen wird bis dahin noch heftig gefeilt werden, aber der Einstiegspreis dürfte wohl im 40.000-Euro-Bereich liegen.
Für den 584 PS starken Überflieger Kia EV6 GT, der den Sprint von 0 auf 100 km/h in 3,5 Sekunden in den Asphalt brennt, sollte man hingegen schon etwas mehr als 60.000 Euro reservieren.
Abmessungen: Länge x Breite x Höhe 4.680 x 1.880 x 1.550 mm, Radstand 2,900 mm. Kofferraum: 520 l im Heck, 52 l im Bug (nur bei 2WD-Versionen).
Leistungs-Varianten: Batterie mit 58 kWh: Heckantrieb mit 169 PS Leistung / 400 km Reichweite, Allradantrieb mit 234 PS / 380 km Reichweite (nach WLTP-Messverfahren).
Batterie mit 77,4 kWh: Heckantrieb mit 217 PS / 510 km Reichweite, Allradantrieb mit 325 PS / 490 km, EV6 GT mit Allrad und 584 PS / 400 km Reichweite.
Ladung: Schnellladesystem mit 400 Volt und 800 Volt bei automatischer Erkennung der jeweiligen Ladesäule. V2L-System (Vehicle to Load) für Stromversorgung von externen Abnehmern mit 220 Volt / 3,6 kW.
Minimal-Ladezeit von 10 auf 80 % Batterie-Ladestand in 18 Minuten, 100 km Reichweite in 5 Minuten.
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