Der Design-Papst privat: Erinnerungen an Marcello Gandini
Einen Versuch war es wert. Auch wenn Marcello Gandini nie das grelle Licht der Öffentlichkeit gesucht hatte und lieber hinter seine Kreationen zurückgetreten ist.
Auch wenn er in der Szene als introvertiertes, sensibles Genie galt. Und sich zu dem Zeitpunkt schon aus der Führungsrolle bei Bertone zurückgezogen und als freier Designer selbstständig gearbeitet hatte.
Mehr als eine Absage konnte nicht passieren. Was eigentlich zu erwarten war, kam die Anfrage für eines der raren Interviews mit dem Schöpfer von Sportwagenikonen wie der Lamborghinis Miura und Countach, des Lancia Stratos oder diverser Maseratis (Shamal, Quattroporte) nicht von einem der Platzhirschen der internationalen Auto-Zeitschriften-Szene. Sondern vom Motor-KURIER aus Österreich.
Doch der Maestro war nicht nur gleich selbst am Telefon. Nach einer kurzen Beschreibung des Vorhabens – ein Gandini-Portrait für eine Sonderausgabe zum bevorstehenden Genfer-Autosalon 1991 – stellte er einen persönlichen Termin in seinem Atelier in der Nähe von Turin in Aussicht.
Woraus sich einer jener besonderen Tage entwickeln sollte, wie sie im beruflichen Leben eines Auto-Journalisten nur selten vorkommen.
Die lange Anreise im Jänner 1991 in das kleine Dorf Almese am Fuße der Alpen westlich von Turin, wo Marcello Gandini nicht nur arbeitete, sondern in einem ehemaligen Forsthaus aus dem 16. Jahrhundert auch wohnte, mündete nicht in das sonst übliche Einstunden-Gespräch mit nervösem Sekretär im Hintergrund.
Es begann vielmehr mit einem von Signora Gandini zelebrierten dreigängigen Mittagessen, bei dem sich die Konversation mit dem Hausherrn zunächst um die Meriten sizilianischen Weines und afrikanischen Safrans drehte.
Und nicht um Autos.
Die kommen erst ins Spiel, als Marcello Gandini von seinen Anfängen erzählt, als er diverse Alfas und Fiats von Freunden für lokale Bergrennen präparierte. Die Auftragslage war blendend, „das Problem war nur, dass man ständig erfolglos seinem Geld nachlaufen musste“, blickte er schmunzelnd zurück.
So war der Sohn eines Dirigenten, der seiner künstlerischen Ader zunächst im Möbeldesign Ausdruck verlieh, irgendwann reif für den Anruf von Nuccio Bertone, bei dem er schon zuvor einmal um eine Stelle angefragt hatte. Dem großen Bertone war gerade sein Designchef namens Giorgio Giugiaro abhandengekommen (der sich mit Italdesign selbstständig machte). Er hatte dringenden Bedarf, um die zahlreichen Gestaltungs-Aufträge der internationalen Autoindustrie abarbeiten zu können.
Was vor allem an einem Umstand lag, den Gandini, beim Espresso schon sichtlich gelöst nach dem ersten Abtasten mit dem Interviewer – und dankbar dafür, auf Italienisch parlieren zu können – so umriss: „Bertone hat Zeit seines Lebens kein einziges Auto selbst entworfen, auf dem sein Name draufsteht.“ Dessen wahre Fähigkeit sei es gewesen, „immer die richtigen Leute um sich zu scharen.“
In den rund 14 Jahren, die Marcello Gandini als Leiter des traditionsreichen Design-Imperiums Bertone wirkte, hinterließ er prägende Spuren in der Automobilgeschichte. Und das nicht nur mit dem heute als zeitloser Sportwagenklassiker um Millionen gehandelten Lamborghini Miura. Vom Audi 50, dem Vorläufer des VW Polo, über den Renault 5 und den Citroën BX bis zur ersten BMW 5er-Reihe gehen viele Großserienautos auf Gandinis Entwürfe zurück.
Mit dem Wechsel vom Mittagstisch in sein riesiges Atelier auf der anderen Seite des Atrium-Hofes des Anwesens legte der Maestro dann alle Zurückhaltung ab. Hier im Allerheiligsten des zu dem Zeitpunkt weltweit als erste Adresse für die Formgebung exklusiver Supersportwagen geltenden Designers, arbeitete er vor allem am Nachmittag an neuen Entwürfen. „Ab fünf Uhr habe ich meine beste Zeit. In der Früh fällt mir nämlich überhaupt nichts ein,“ gab sich Gandini als Abendmensch zu erkennen.
An den Wänden hängt an jenem Jännertag 1991 die Konstruktionszeichnung einer Spyder-Version des Maserati Shamal. Aus der später wegen der notorischen Geldprobleme des Maserati-Eigentümers Alejandro de Tomaso ebenso nichts werden sollte, wie aus den ersten Entwürfen eines Modells für die Wiedergeburt der italienischen Nobelmarke Iso Rivolta.
Auf einem Tisch steht das noch geheime Tonmodell eines kleinen Lamborghini unterhalb des Diablo. Dessen Ur-Form stammte wie der zur Legende gewordene Countach ebenfalls von Gandini, war den damals in Sant‘Agata den Ton angebenden Chrysler-Managern aber zu radikal.
Wie der von den Amerikanern um den legendären Chrysler-Boss Lee Iacocca abgerundete Serien-Diablo aussehen hätte können, zeigt dann der einzigartige Cizeta Moroder. Für den Supersportwagen, der lange vor Ferdinand Piëchs Bugatti einen 16-Zylinder-Motor nutzte, überarbeitete Gandini seinen Diablo-Entwurf.
Über weitere Ausführungen zu anderen Projekten, wie Brillen- und Lampendesigns für eine japanische und Gartenmöbel für eine Schweizer Firma vergeht schließlich der Nachmittag. Erst als es draußen schon dämmert und bevor den Meister wieder die Muse küsst – es geht schließlich schon gegen 17:00 Uhr – findet der Besuch bei Marcello Gandini ein Ende.
Aus dem vermeintlichen kurzen Interview ist ein nachhaltig wirkender, sehr persönlicher Besuch bei einem Genie und Schöngeist geworden. Zum Abschied hat Marcello Gandini eine weitere Überraschung auf Lager.
Draußen im Hof vor dem Anwesen lungert ein gut abgehangener Renault R5 neben einem grauen Audi 80 quattro herum. Von seinen radikalen Sportwagen-Ikonen keine Spur. Darauf angesprochen meint ein lächelnder Hausherr, dass er keine seiner Schöpfungen je selbst gefahren sei.
Erklärender Nachsatz, den man Marcello Gandini nach diesem Tag mit ihm sofort abnimmt: „Wenn ich ein Auto fertig habe, interessiert es mich nicht mehr!“
Mit Marcello Gandini ist am 13. März einer der größten Individualisten unter den Autodesignern so still gegangen, wie er gelebt hat.
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