Und niemand ist verwundert
Stellen Sie sich vor, ein Skandal wird aufgedeckt – und niemand ist verwundert.
In der vergangenen Woche sind Vorwürfe von Missbrauch und physischer wie psychischer Gewalt an der Wiener Ballettakademie der Staatsoper durch den Falter ans Licht gekommen und, ja, die Zuständigen reagierten schockiert, versicherten Aufklärung, riefen Sonderkommissionen ins Leben.
Aber waren sie wirklich überrascht? Von den Erzählungen über Beschimpfungen und Kratzwunden. Über Verletzungen durch Tritte von Lehrerinnen und Brechattacken der Schülerinnen vor Trainings. Über Mädchen, die vor Erschöpfung in Ohnmacht fielen, weil sie trotz des vielen Sports nur eine Semmel am Tag aßen, aus Angst, zu dick zu werden. Aus Angst, von Trainerinnen oder Trainern gedemütigt zu werden.
Überrascht kann doch niemand sein. Und ist das nicht der eigentliche Skandal? Dass wir ein krankes Schönheitsideal und zerstörenden Leistungsdruck so ohne weiteres hinnehmen?
Denn, erstens: Wieso lassen wir das Herunterhungern auf 37 Kilogramm bei einer Große von 1,70 Metern als eiserne Disziplin feiern? Wieso sind auf Ballettbühnen, auf Mode-Laufstegen, in Filmen großteils nur derart dünne Menschen zu sehen, die tausende Mädchen und leider auch immer mehr Buben in Essstörungen treiben (von denen übrigens jede zehnte tödlich endet)?
Zweitens: Wieso arbeiten wir nicht stärker daran, Apparate der Gewalt auszuschalten? Die aktuellen Missbrauchsvorwürfe sind nicht die einzigen, die in den vergangenen Monaten zutage getreten sind. Und sie sind bezeichnend für ein Verhalten, das sich durch die Gesellschaft zieht: Führungspersonen, die Schützlinge/Mitarbeiter mit Angst motivieren – entweder aus einem Machtrausch heraus oder weil sie nicht wissen, wie sie die (jungen) Menschen sonst zu Höchstleistungen bringen sollen.
Nichts davon müsste sein. Aber um daran etwas zu ändern, sind tiefergreifendere Maßnahmen notwendig, als bei jedem Einzelfall eine Sonderkommission einzurichten.
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