Und niemand ist verwundert

Und niemand ist verwundert
Vorwürfe an die Ballettakademie: Ist es nicht der eigentliche Skandal, dass niemand überrascht sein kann?
Anna-Maria Bauer

Anna-Maria Bauer

Stellen Sie sich vor, ein Skandal wird aufgedeckt – und niemand ist verwundert. 

In der vergangenen Woche sind Vorwürfe von Missbrauch und physischer wie psychischer Gewalt an der Wiener Ballettakademie der Staatsoper durch den Falter ans Licht gekommen und, ja, die Zuständigen reagierten schockiert, versicherten Aufklärung, riefen Sonderkommissionen ins Leben. 

Aber waren sie wirklich überrascht?  Von den Erzählungen über  Beschimpfungen und Kratzwunden. Über Verletzungen durch Tritte von Lehrerinnen und Brechattacken der Schülerinnen  vor Trainings. Über Mädchen, die vor Erschöpfung in Ohnmacht fielen, weil sie trotz des vielen Sports nur eine Semmel am Tag aßen, aus Angst, zu dick zu werden. Aus Angst,  von  Trainerinnen oder Trainern gedemütigt zu werden.  

Überrascht kann doch niemand sein. Und  ist das nicht der eigentliche Skandal? Dass wir ein krankes Schönheitsideal und zerstörenden Leistungsdruck  so ohne weiteres hinnehmen?

Denn, erstens: Wieso lassen wir das Herunterhungern auf 37 Kilogramm bei einer Große von 1,70 Metern  als eiserne Disziplin feiern? Wieso sind auf Ballettbühnen, auf Mode-Laufstegen, in  Filmen großteils nur derart dünne Menschen zu sehen, die tausende  Mädchen und leider auch immer mehr  Buben in Essstörungen treiben (von denen übrigens  jede zehnte tödlich endet)?

Zweitens: Wieso arbeiten wir nicht stärker daran, Apparate der Gewalt auszuschalten? Die aktuellen Missbrauchsvorwürfe sind  nicht die einzigen, die  in den vergangenen Monaten zutage getreten sind. Und sie sind bezeichnend für ein Verhalten, das sich durch die Gesellschaft zieht: Führungspersonen, die Schützlinge/Mitarbeiter  mit Angst motivieren – entweder aus einem Machtrausch heraus oder weil sie nicht wissen, wie sie die (jungen) Menschen sonst zu Höchstleistungen bringen sollen.   

Nichts davon müsste sein. Aber um daran etwas zu ändern, sind tiefergreifendere Maßnahmen notwendig, als bei jedem Einzelfall eine Sonderkommission einzurichten. 

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